Elementarteilchen
verschwinden folglich die familiären Beziehungen, die Begriffe Vaterschaft und Abstammung. Und dank der pharmazeutischen Fortschritte wird es keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebensaltern mehr geben. In der Welt, die Huxley beschreibt, übt ein sechzigjähriger Mann die gleichen Tätigkeiten aus wie ein Zwanzigjähriger, hat die gleiche äußere Erscheinung und die gleichen sinnlichen Begierden wie er. Und wenn es dann nicht mehr möglich ist, gegen den Alterungsprozeß zu kämpfen, stirbt man freiwillig durch selbstbestimmte Euthanasie; sehr diskret, sehr schnell, völlig undramatisch. Die Gesellschaft, die Huxley in Brave New World beschreibt, ist eine glückliche Gesellschaft, die keine Tragödien und keine extremen Gefühle mehr kennt. Es herrscht völlige sexuelle Freiheit, die persönliche Entfaltung und die sinnliche Begierde werden durch nichts mehr eingeschränkt. Es bleiben noch vorübergehende Augenblicke der Depression, der Trauer und des Zweifels; doch sie werden durch medikamentöse Behandlung schnell behoben, die Wirkungsweise der antidepressiven und angstlösenden Medikamente wurde maßgeblich verbessert. >Ein Milliliter erfrischt die Gemüter.< Das ist genau die Welt, auf die wir heute zustreben, die Welt, in der wir leben möchten.
Ich weiß natürlich«, fuhr Bruno mit einer Handbewegung fort, als wolle er einen Einwand vom Tisch fegen, den Michel nicht erhoben hatte, »daß man Huxleys Welt im allgemeinen als einen totalitären Alptraum beschreibt und versucht, in diesem Buch eine scharfe Anklage zu sehen; doch das ist reine Heuchelei. Brave New World ist für uns in jeder Hinsicht - sei es, was die genetische Kontrolle, die sexuelle Freiheit, den Kampf gegen das Altern oder die Freizeitkultur betrifft - ein Paradies, in Wirklichkeit ist es haargenau die Welt, die wir anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg. Nur eine Sache verletzt heute etwas unser egalitäres, oder genauer gesagt, auf persönlichem Verdienst beruhendes Wertsystem, und das ist die Aufteilung der Gesellschaft in Kasten, die ihrer genetischen Natur entsprechend für unterschiedliche Arbeiten eingesetzt werden. Aber das ist wirklich der einzige Punkt, in dem sich Huxleys Voraussagen als falsch erwiesen haben; und zugleich ist es der einzige Punkt, der durch die Weiterentwicklung der Automatisierung und der maschinellen Produktion heutzutage ziemlich irrelevant geworden ist. Aldous Huxley ist ohne jeden Zweifel ein sehr schlechter Schriftsteller, seine Sätze sind schwerfällig und ohne jede Ele- ganz, seine Romanfiguren sind langweilig und didaktisch. Aber er hat die grundlegende Intuition gehabt, daß die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten ausschließlich durch die wissenschaftliche und technologische Entwicklung gesteuert worden ist und immer mehr gesteuert werden wird. Es mag sein, daß es ihm an Finesse und psychologischem Einfühlungsvermögen gefehlt hat und sein Stil ziemliche Mängel aufweist; aber all das ist, gemessen daran, wie zutreffend seine anfängliche Intuition ist, relativ unwichtig. Er hat als erster unter den Schriftstellern begriffen - die Science-fiction-Autoren miteinbezogen -, daß nach der Physik jetzt die Biologie die entscheidende Rolle spielen würde.«
Bruno hielt inne und stellte plötzlich fest, daß sein Bruder etwas abgenommen hatte; er wirkte abgespannt, sorgenvoll und auch ein wenig unaufmerksam. Tatsächlich hatte er es seit einigen Tagen versäumt, Einkäufe zu machen. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren befanden sich vor dem Monoprix noch immer viele Bettler und Zeitungsverkäufer; dabei war Hochsommer, eine Jahreszeit, in der die Armut normalerweise nicht so bedrückend ist. Wie sollte das erst werden, wenn es Krieg gab? fragte sich Michel, während er durch die Schaufenster beobachtete, wie die Clochards langsam vorbeigingen. Wann würde es Krieg geben, und wie würde der Schulbeginn aussehen? Bruno schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein; er hatte allmählich Hunger und war etwas überrascht, als sein Bruder ihm mit müder Stimme antwortete:
»Huxley stammt aus einer großen Familie englischer Biologen. Sein Großvater war ein Freund von Darwin, er hat viel zur Verteidigung der evolutionistischen Thesen geschrieben. Sein Vater und sein Bruder Julian waren ebenfalls berühmte Biologen. Es ist eine englische Tradition unter den pragmatischen, liberalen, intellektuellen Skeptikern, ganz anders als etwa in
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