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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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des Individualismus unterschätzt hat, die das gesteigerte Bewußtsein des Todes mit sich bringt. Aus dem Individualismus erwachsen Freiheit und Selbstgefühl sowie das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden und sich ihnen überlegen zu fühlen. In einer rationalen Gesellschaft, wie sie in Schöne neue Welt beschrieben ist, kann der Kampf abgemildert werden. Der wirtschaftliche Wettbewerb - eine Metapher für die Beherrschung des Raums - hat in einer reichen Gesellschaft, in der die wirtschaftlichen Schwankungen fest unter Kontrolle sind, keine Existenzberechtigung. Der sexuelle Wettbewerb - eine Metapher für die Beherrschung der Zeit, zumindest unter dem Aspekt der Zeugung - hat in einer Gesellschaft, in der die Trennung zwischen Sex und Zeugung gänzlich vollzogen ist, keine Existenzberechtigung; aber Huxley hat vergessen, den Individualismus zu berücksichtigen. Er hat nicht begriffen, daß Sex, sobald man ihn von der Zeugung loslöst, nicht so sehr als Lustprinzip, sondern vielmehr als Prinzip narzistischer Unterscheidung weiterbesteht; mit dem Wunsch nach Reichtum verhält es sich genauso. Warum hat sich das sozialdemokratische schwedische Modell nie gegenüber dem liberalen Modell durchsetzen können? Warum ist es nie auf dem Gebiet der sexuellen Befriedigung ausprobiert worden? Weil die metaphysische Wandlung, die die moderne Wissenschaft herbeigeführt hat, Individualisierung, Eitelkeit, Haß und Begierde mit sich bringt. Die sinnliche Begierde an sich - im Gegensatz zur Lust - ist eine Quelle des Leidens, des Hasses und des Unglücks. Das haben alle Philosophen - nicht nur die buddhistischen, nicht nur die christlichen, sondern alle Philosophen, die diesen Namen verdienen - gewußt und gelehrt. Die Lösung der Utopisten - von Platon über Fourier bis hin zu Huxley - besteht darin, die sinnliche Begierde und das Leiden, das damit verbunden ist, zu stillen, indem sie deren unmittelbare Befriedigung organisieren. Die eros- und werbungsorientierte Gesellschaft, in der wir leben, ist dagegen bestrebt, die sinnliche Begierde in unerhörtem Ausmaß zu fördern, wobei sie deren Befriedigung jedoch dem Bereich der Privatsphäre zuordnet. Für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft, für das Weiterbestehen des Wettbewerbs, ist es erforderlich, daß die sinnliche Begierde zunimmt, sich ausbreitet und das Leben der Menschen verzehrt.« Erschöpft wischte er sich den Schweiß von der Stirn; er hatte sein Essen nicht angerührt.
        »Es gibt Korrektive, kleine humanistische Korrektive ...«, sagte Bruno sanft. »Ich meine, Dinge, die es erlauben, den Tod zu vergessen. In Schöne neue Welt si nd es die Medikamente gegen Angstgefühle und Depressionen; in E iland handelt es sich dabei eher um Meditation, bewußtseinserweiternde Drogen und ein paar vage Elemente aus der hinduistischen Religion. In der Praxis versuchen die Leute heute eine Mischung aus beidem.«
        »Auch Julian Huxley geht in W hat dare I think auf die religiöse Problematik ein, er widmet ihr den gesamten zweiten Teil seines Buches«, entgegnete Michel mit zunehmendem Widerwillen. »Es ist ihm völlig klar, daß die Fortschritte der Wissenschaft und des Materialismus die Grundlagen aller traditionellen Religionen unterminiert haben; es ist ihm auch klar, daß keine Gesellschaft ohne Religion fortbestehen kann. Auf über hundert Seiten bemüht er sich, die Grundlagen für eine Religion zu schaffen, die mit dem heutigen Stand der Wissenschaft vereinbar ist. Man kann allerdings nicht behaupten, daß das Ergebnis besonders überzeugend sei; man kann auch nicht behaupten, daß die Entwicklung unserer Gesellschaften tatsächlich diese Richtung eingeschlagen habe. Da jede Hoffnung auf Vereinigung durch die Gewißheit des materiellen Tods vernichtet wird, ist es unvermeidlich, daß sich Eitelkeit und Grausamkeit weiter ausbreiten. Und in ihrer kompensatorischen Funktion«, sagte er und beschloß damit die Unterhaltung auf seltsame Weise, »ergeht es der Liebe genauso.«

    11

        Nach Brunos Besuch verbrachte Michel die beiden folgenden Wochen im Bett. Wie kann eigentlich eine Gesellschaft, so fragte er sich, ohne Religion weiterbestehen? Schon für den einzelnen schien die Sache nicht einfach zu sein. Mehrere Tage lang betrachtete er den Heizkörper, der links neben seinem Bett angebracht war. In der kalten Jahreszeit füllten sich die Heizrippen mit warmem Wasser, das war ein nützlicher, wohldurchdachter Mechanismus; aber wie

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