Elementarteilchen
ihn gewähren lassen. Er hat sein Gesicht einen Augenblick zwischen meine Brüste gelegt, dann ist er in seinen Sessel zurückgesunken. Seine Hände zitterten sehr. Mit einer Kopfbewegung hat er mich aufgefordert, wegzugehen. Ich habe in seinem Blick keinerlei spirituelle Initiation, keinerlei Weisheit entdeckt; ich habe darin nur Angst entdeckt. Er ist bei Anbruch der Dunkelheit gestorben. Er hatte angeordnet, daß auf der Kuppe des Hügels ein Scheiterhaufen hergerichtet wurde. Wir alle haben Äste zusammengetragen, dann hat die Zeremonie begonnen. David hat den Scheiterhaufen für seinen Vater angezündet, in seinen Augen lag ein seltsamer Schimmer. Ich wußte nichts über ihn, außer daß er Rockmusik machte; er war mit ziemlich schrägen Typen zusammen, mit tätowierten amerikanischen Motorradfreaks in Lederkleidung. Ich war mit einer Freundin gekommen, und als es Nacht wurde, fühlten wir uns nicht besonders sicher.
Mehrere Bongotrommler haben sich vor das Feuer gesetzt und angefangen, einen langsamen, gemessenen Rhythmus zu schlagen. Die Teilnehmer haben begonnen zu tanzen, das Feuer war sehr heiß, und wie gewöhnlich haben sie sich nach und nach ausgezogen. Um eine Feuerbestattung vorzunehmen, braucht man normalerweise Weihrauch und Sandelholz. Wir hatten natürlich nur trockene Äste zusammengetragen, die vermutlich mit einheimischen Kräutern vermischt waren - Thymian, Rosmarin und Bohnenkraut; und daher ähnelte der Geruch nach einer halben Stunde haargenau dem Geruch eines Holzkohlengrills. Ein Freund von David hat diese Bemerkung gemacht - ein dicker Kerl in einer Lederweste, mit langem fettigen Haar und zwei fehlenden Schneidezähnen. Ein anderer, so eine Art Hippie, hat erklärt, daß in vielen primitiven Stämmen der Verzehr des verstorbenen Oberhaupts ein Ritus sei, der ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl bewirke. Der Zahnlose hat genickt und angefangen zu grinsen; David ist auf die beiden zugegangen und hat mit ihnen diskutiert, er war völlig nackt und im Schein des Feuers sah sein Körper wirklich toll aus - ich glaube, er betrieb Muskeltraining. Ich habe gespürt, daß die Sache vermutlich ziemlich ausarten würde und habe mich schnell zurückgezogen, um schlafen zu gehen.
Kurz darauf ist ein Gewitter ausgebrochen. Ich weiß nicht, warum ich wieder aufgestanden bin, auf jeden Fall bin ich zum Scheiterhaufen zurückgekehrt. Es waren noch etwa dreißig Leute da, die splitternackt im Regen tanzten. Ein Typ hat mich brutal an den Schultern gepackt, zum Scheiterhaufen gezerrt und mich gezwungen, mir anzusehen, was noch von der Leiche übrig war. Man sah den Schädel mit den Augenhöhlen. Das Fleisch war nicht völlig verbrannt und halb mit der Erde vermischt, das sah aus wie kleine Schlammhäufchen. Ich habe laut geschrieen, der Typ hat mich losgelassen, und ich habe es geschafft, zu fliehen. Am nächsten Tag sind meine Freundin und ich abgereist. Ich habe nie wieder etwas von diesen Leuten gehört.«
»Hast du nicht den Artikel in Paris Match gelesen?«
»Nein ...« Christiane schien überrascht zu sein; Bruno stockte und bestellte zwei Kaffee, ehe er fortfuhr. Im Laufe der Jahre hatte er eine zynische, brutale Lebenseinstellung entwikkelt, die typisch männlich war. Die Welt war ein geschlossenes Feld, ein bestialisches Gewimmel; all das war von einem geschlossenen, strengen Horizont umgeben, der deutlich wahrnehmbar, aber unerreichbar war: das moralische Gesetz. Und dennoch steht geschrieben, daß die Liebe das Gesetz enthält und es verwirklicht. Christiane blickte ihn aufmerksam und zärtlich an; ihre Augen waren etwas müde.
»Die Geschichte ist furchtbar widerlich«, fuhr Bruno ermattet fort, »Ich habe mich gewundert, daß die Journalisten nicht mehr darüber berichtet haben. Wie dem auch sei, es war vor fünf Jahren, der Prozeß hat in Los Angeles stattgefunden, die satanistischen Sekten waren in Europa noch ein neues Thema. David di Meola war einer der zwölf Angeklagten - ich habe seinen Namen gleich wiedererkannt; nur zwei Leute hatten es geschafft, der Polizei zu entkommen, und er gehörte dazu. Dem Artikel zufolge war er vermutlich nach Brasilien geflüchtet. Das Beweismaterial gegen ihn war äußerst belastend. Man hatte in seiner Wohnung Hunderte von Videokassetten mit Mord- und Folterszenen gefunden, und all diese Kassetten waren sorgsam geordnet und beschriftet; auf manchen von ihnen war er mit unverhülltem Gesicht zu sehen. Auf der Kassette, die bei der
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