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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Marty, »und wohin jetzt?«
     »Gradeaus«, erklärte Myra, »bis zu dem großen Kreisel, wo der Weihnachtsbaum steht. Dann rechts, ums Verwal- tungsgebäude rum, und weiter bis zum Ende der Straße.« Marty bog an der richtigen Stelle ab, und als sie sich dem langgestreckten, niedrigen Bau der TB-Klinik näherten, sagte sie: »Da wären wir, Marty, genau hier.« Marty fuhr an den Bordstein und brachte den Wagçn zum Stehen. Myra griff sich die Zeitschriften, die sie für ihren Mann mitgenom- men hatte, und stieg aus in den spärlichen grauen Schnee.
     Irene zog die Schultern hoch, schlang die Arme um die Brust und drehte sich um. »Puuh, ganz schön kalt da draußen, was? Sag mal, Herzchen, wie lang wird's denn dauern? Bis acht, oder?«
     »Genau«, sagte Myra, »aber hör mal, wieso fahrt ihr nicht einfach wieder nach Haus? Ich kann genausogut den Bus nehmen, wie immer.«
     »Hältst du mich etwa für blöd?« sagte Irene. »Meinst du vielleicht, ich hab' Lust, den ganzen Heimweg über den stinkigen Jack im Rücken zu haben?« Sie kicherte und warf Myra einen zwinkernden Blick zu. »Schon schlimm genug, ihn bei Laune zu halten, wenn du im Wagen sitzt, aber dann noch den ganzen Heimweg – nein, hör zu, wir fahren einfach ein bißchen durch die Gegend, Herzchen; vielleicht trinken wir irgendwo was oder so, und Punkt acht sind wir wieder hier.«
     »Na schön, okay, aber ich kann wirklich genauso- gut –«
     »Exakt hier«, sagte Irene. »Wir treffen uns exakt hier vor dem Gebäude, Punkt acht Uhr. Und jetzt schieb endlich ab und mach die Tür zu, bevor wir hier noch erfrieren.«
     Myra schlug lächelnd die Wagentür zu, aber Jack schmollte, ohne das Lächeln zu erwidern oder zu win- ken, mit gesenktem Blick vor sich hin. Kurz darauf rollte der Wagen davon, und Myra ging den Fußweg und die Treppe zur TB-Klinik hinauf.
     Im kleinen Wartezimmer roch es nach heißem Dampf und feuchten Überschuhen; sie schritt rasch hindurch, an der Tür mit dem Schild STATIONSSCHWESTER – INFEK- TIONSSTATION vorbei und in die große, von Lärm er- füllte Hauptstation. Sechsunddreißig Betten waren dort aufgestellt; ein breiter Gang trennte den Raum in zwei Hälften, die wiederum in schulterhohe offene Zellen mit jeweils sechs Betten unterteilt waren. Die Bettlaken und klinikeigenen Schlafanzüge waren gelb gefärbt, um sie von dem unverseuchten Bettzeug der Klinikwäscherei zu unterscheiden, was, im Verein mit den hellgrünen Wän- den, eine Farbkombination ergab, an die Myra sich nie gewöhnen konnte. Auch der Lärm war fürchterlich; alle Patienten hatten ein Radio, und es klang, als hätte jeder einen anderen Sender eingestellt. Um manche Betten scharten sich Besucher – einer der frisch Eingelieferten lag da, hatte die Arme um seine Frau geschlungen und küßte sie –, doch die Männer in den anderen Betten machten einen einsamen Eindruck, sie lasen oder hörten Radio.
     Myras Mann bemerkte seine Frau erst, als sie direkt neben seinem Bett stand. Er hatte sich mit übereinander- geschlagenen Beinen aufgesetzt und starrte irgend etwas auf seinem Schoß trübsinnig an. »Hallo, Harry«, sagte sie.
     Er hob den Kopf. »Oh, hallo, Liebling, hab' dich gar nicht kommen sehen.«
     Sie beugte sich vor und gab ihm einen raschen Kuß auf die Wange. Manchmal küßten sie sich auch auf die Lip- pen, aber eigentlich war das nicht erlaubt.
     Harry warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Du bist spät dran. Hatte der Bus Verspätung?«
     »Ich bin nicht mit dem Bus gekommen«, sagte sie und zog den Mantel aus. »Jemand hat mich hergebracht. Irene, die Kollegin aus meinem Büro. Sie und ihr Mann haben mich in ihrem Wagen gefahren.«
     »Oh, schön. Wieso bringst du die zwei nicht mit rein?«
     »Na ja, sie haben keine Zeit – sie müssen noch wo- andershin. Aber sie lassen dich beide grüßen. Sieh mal, ich hab dir was mitgebracht«
     »Oh, danke, das ist ja toll.« Er nahm die Zeitschriften entgegen und breitete sie auf dem Bett aus: Life, Collier's und Popular Science. »Wirklich toll, Liebling. Jetzt setz dich mal ein bißchen her.«
     Myra legte ihren Mantel auf den Stuhl neben dem Bett und nahm Platz. »Hallo, Mr. Chance«, sagte sie zu einem sehr hochgewachsenen Schwarzen im Nachbarbett, der ihr grinsend zunickte.
     »Wie geht's, Mrs. Wilson?«
     »Danke, gut, und Ihnen?«
     »Och, kann nicht klagen«, sagte Mr. Chance.
     Myra spähte über Harrys Bett hinweg zu Red O'Meara, der auf der anderen Seite lag und

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