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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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schluckte, blinzelte. »Was ich jeden Tag rasie- ren könnte, Feldwebel."
     Wir fühlten uns alle schwer enttäuscht. »Was zum Teu- fel glaubt er, wer wir sind«, fragte Schacht beim Mittag- essen, »ein Haufen Rekruten?« Und D'Allessandro murrte rebellisch und zustimmend.
     Ein schwerer Kater hätte Reece an diesem Tag entschul- digt, aber wohl kaum am nächsten Tag und am über- nächsten. Er schikanierte uns ohne Grund und ohne Unterbrechung, und er zerstörte alles, was er in den vie- len Wochen zuvor so gewissenhaft aufgebaut hatte; das empfindliche Gebäude unseres Respekts für ihn bröckel- te und stürzte ein.
     »Es ist endgültig«, sagte der Schriftführer der Kompanie am Mittwoch während des Abendessens. »Der Befehl ist raus. Morgen ist sein letzter Tag.«
     »Und?« fragte Schacht. »Wohin geht er?«
     »Nicht so laut«, sagte der Schriftführer. »Er wird mit den Ausbildern arbeiten. Einen Teil der Zeit auf dem Biwakgelände, den anderen Teil im Bajonettkurs.«
     Schacht lachte und stieß D'Allessandro an. »Verdammt«, sagte er, »da wird er sich freuen, was? Besonders über das Bajonett. Der Dreckskerl wird jeden Tag angeben kön- nen. Das wird ihm gefallen.«
     »Was, seid ihr verrückt geworden?« sagte der Schrift- führer beleidigt. »Gefallen, so ein Quatsch. Der Typ liebt seine Arbeit. Ihr meint, ich mach' Spaß? Er liebt seine Arbeit, und er hat verdammtes Pech gehabt.«
     D'Allessandro griff das Argument auf und kniff die Augen zusammen. «Wirklich?« sagte er. »Glauben Sie? Sie hätten ihn diese Woche erleben sollen. Jeden Tag.«
     Der Schriftführer neigte sich mit solchem Ernst vor, daß er etwas von seinem Kaffee verschüttete. »Hört mal«, sagte er, »er weiß es schon die ganze Woche – wie zum Teufel hätte er sich eurer Meinung nach denn verhalten sollen? Wie zum Teufel würdet ihr euch verhalten, wenn ihr wüßtet, daß euch jemand wegnehmen will, was ihr am liebsten macht? Begreift ihr denn nicht, daß er unter Druck steht?«
     Aber das, so gaben wir ihm mit unseren mürrischen Blicken zu verstehen, war keine Entschuldigung dafür, sich wie ein blöder Südstaatenidiot aufzuführen.
     »Ihr Jungs müßt erst noch erwachsen werden«, sagte der Schriftführer und ging schmollend davon.
     »Ach, glaubt nicht alles, was man euch erzählt«, sagte Schacht. »Ich glaube erst, daß er versetzt wird, wenn ich's sehe.«
     Aber es stimmte. An diesem Abend saß Reece noch spät in seinem Zimmer und trank verdrossen mit einem sei- ner Freunde. Wir hörten in der Dunkelheit ihre leisen undeutlichen Stimmen und gelegentlich das Klirren der Whiskeyflasche. Am nächsten Tag war er zu uns weder milde noch hart, sondern er brütete und war distanziert, als wäre er mit anderen Dingen beschäftigt. Und nach- dem er mit uns am Abend zurückmarschiert war, ließ er uns noch kurz vor den Unterkünften stehen, in Rührt- Euch-Stellung, bevor er uns wegtreten ließ. Sein ruhe- loser Blick schien der Reihe nach über alle unsere Gesich- ter zu schweifen. Dann begann er in einem Tonfall zu sprechen, der sanfter klang als jeder andere, den wir je von ihm gehört hatten. »Ich werd' euch Männer nich' wiedersehn«, sagte er. »Ich werd' versetzt. Auf eins könnt ihr euch in der Armee immer verlassen, und das is', wenn ihr was Gutes gefunden habt, eine Arbeit, die euch ge- fällt, dann versetzen sie euren Arsch woandershin.«
     Ich glaube, wir waren alle gerührt – ich jedenfalls war es; nie zuvor war er so nahe daran gewesen zu sagen, daß er uns mochte. Aber es war zu spät. Alles, was er jetzt sagen oder tun konnte, kam zu spät, und wir fühlten uns vor allem erleichtert. Reece schien das zu spüren und zu kürzen, was er hatte sagen wollen.
     »Ich weiß, daß mir niemand befohlen hat, eine Rede zu halten«, sagte er, »und das werd' ich auch nich' tun. Das einzigste, was ich sagen will, ist ...« Er senkte den Blick und starrte auf seine staubigen Uniformstiefel. »Ich möchte euch allen viel Glück wünschen. Laßt euch nix zuschulden kommen, hört ihr? Und geratet nich' in Schwierigkeiten.« Die nächsten Worte waren kaum mehr zu hören. »Und laßt euch von niemand herumstoßen.«
     Es folgte ein kurzes schmerzhaftes Schweigen, so schmerzhaft, als würden sich zwei desillusionierte Lie- bende trennen. Dann richtete er sich auf. »Zug! Aach – tung!« Er sah uns noch einmal mit einem harten funkeln- den Blick an. »Wegtreten.«
     Als wir an diesem Abend vom Essen

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