Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
mit dieser Klasse los ist. Ich habe noch nie eine Klasse gehabt, die so dumm und so achtlos und so kindisch mit ihren Schul- sachen umgegangen ist.«
Sie verlor nie die Fassung, aber es wäre fast besser gewesen, sie hätte es getan, denn es war die immer glei- che, tonlose, trockene, leidenschaftslose Redundanz ihres Tadels, die uns demoralisierte. Wenn Miss Snell jeman- den für eine spezielle Rüge herausgriff, dann quälte sie ihn mit einem Vortrag. Sie näherte sich dem Gesicht ihres Opfers bis auf dreißig Zentimeter, ihre Augen starrten unverwandt in seine, und das faltige graue Fleisch um ihren Mund arbeitete, wenn sie grimmig und bedächtig ihre Beschuldigungen vorbrachte, bis der Tag alle Farbe verloren hatte. Sie schien keine Lieblingsschüler zu haben; einmal hackte sie sogar auf Alice Johnson herum, die immer alles dabeihatte und nahezu alles richtig machte. Alice murmelte etwas, während laut vorgelesen wurde, und als sie nach mehreren Ermahnungen weiter mur- melte, ging Miss Snell zu ihr, nahm ihr das Buch weg und schalt sie mehrere Minuten lang. Alice war zuerst ver- blüfft, als nächstes füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihr Mund verzog sich zu schrecklichen Formen, und dann nahm sie die größte Demütigung auf sich und weinte vor der Klasse.
Es war nicht ungewöhnlich, daß in Miss Snells Klasse geweint wurde, sogar Jungen weinten. Und ironischer- weise schien es immer während der Stille nach einer die- ser Szenen – wenn das einzige Geräusch im Raum das leise, halb erstickte Schluchzen eines Schülers war und der Rest der Klasse in einer Agonie der Verlegenheit nach vorn starrte –, daß aus Mrs. Clearys Klasse auf dem Flur gegenüber Lachen zu ihnen drang.
Dennoch konnten sie Miss Snell nicht hassen, denn Bösewichte müssen für Kinder ganz und gar schwarz sein, und sie konnten nicht leugnen, daß Miss Snell bis weilen auf ganz eigene unbeholfene und tastende Art nett war. »Wenn wir ein neues Wort lernen, ist das, als ob wir einen neuen Freund finden«, sagte sie einmal. »Und wir alle finden doch gern neue Freunde, nicht wahr? Zum Beispiel, als das Schuljahr begann, wart ihr alle Fremde für mich, aber ich wollte unbedingt eure Namen lernen und mich an eure Gesichter erinnern, und deswegen habe ich mir die Mühe gemacht. Zuerst war es verwirrend, aber dann seid ihr alle meine Freunde geworden. Und später werden wir schöne Sachen gemeinsam machen - vielleicht ein kleines Fest an Weihnachten oder so etwas –, und ich weiß, daß es mir dann sehr leid tun würde, wenn ich mir diese Mühe nicht gemacht hätte, denn mit Fremden kann man nicht wirklich Spaß haben, nicht wahr?« Sie lächelte sie reizlos und scheu an. »Und genauso ist es mit Wörtern.«
Nichts war peinlicher, als wenn Miss Snell so etwas sagte, aber die Kinder empfanden dann ihr gegenüber eine vage Verantwortung und hielten sich loyal zurück, wenn Schüler aus anderen Klassen wissen wollten, wie schlimm sie wirklich wäre. »Also, nicht so schlimm«, sagten sie verlegen und versuchten, das Thema zu wech- seln.
John Gerhardt und Howard White gingen normalerweise gemeinsam von der Schule nach Hause, und obwohl sie es zu vermeiden trachteten, gesellten sich häufig zwei Kinder aus Mrs. Clearys Klasse zu ihnen, die in derselben Straße lebten – Freddy Taylor und seine Zwillingsschwe- ster Grace. John und Howard kamen für gewöhnlich bis zum Ende des Pausenhofes, bevor die Zwillinge sich aus der Menge lösten und ihnen nachrannten. »He, wartet auf uns!« rief Freddy. »Wartet!« Und einen Augenblick später gingen die Zwillinge neben ihnen, plapperten und schwangen ihre identischen karierten Schultaschen aus Segeltuch.
»Ratet mal, was wir nächste Woche machen werden«, sagte Freddy mit seiner piepsenden Stimme eines Nach- mittags. »Unsere ganze Klasse meine ich. Ratet mal. Na, macht schon, ratet.«
John Gerhardt hatte den Zwillingen schon einmal aus- drücklich erklärt, daß er nicht gern mit einem Mädchen nach Hause ging, und nun hätte er beinahe gesagt, daß ein Mädchen schon schlimm genug sei, aber zwei seien mehr, als er ertragen könne. Statt dessen warf er Howard White einen wissenden Blick zu, und beide gingen schwei- gend weiter, entschlossen, nicht auf Freddys beharrliches »Ratet« zu antworten.
Aber Freddy wartete nicht lange auf eine Antwort. »Wir machen einen Ausflug«, sagte er, »im Verkehrsunterricht. Wir fahren nach Harmon. Wißt ihr, was Harmon ist?«
»Klar«, sagte
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