Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Pult, ohne zu lächeln, und wartete darauf, daß die Klasse sich setzte. Instinktiv blieb niemand stehen, um die Geschenke anzustarren oder einen Kommentar dazu abzugeben. Miss Snells Haltung machte klar, daß die Party noch nicht begonnen hatte.
Auf dem Stundenplan stand Rechtschreibunterricht, und Miss Snell wies die Schüler an, Stifte und Hefte her- auszunehmen. In der Stille zwischen den Worten, die zu schreiben sie ihnen aufgab, hörten sie die Geräusche aus Mrs. Clearys Klasse – wiederholtes Gelächter und Aus- rufe der Überraschung. Aber das kleine Häufchen Ge- schenke machte alles wieder gut; die Kinder mußten es nur ansehen, und dann wußten sie, daß es nichts gab, wofür sie sich schämen mußten. Miss Snell hatte es ge- schafft.
Die Geschenke waren alle gleich verpackt, in weißes Seidenpapier mit einer roten Schleife, und die wenigen Formen, die John Gerhardt erkennen konnte, deuteten darauf hin, daß es Taschenmesser sein konnten. Vielleicht, so dachte er, waren es Taschenmesser für die Jungen und kleine Taschenlampen für die Mädchen. Da Taschenmes- ser vermutlich zu teuer waren, war es wohl eher etwas Gutgemeintes und Nutzloses aus dem Billigladen, wie zum Beispiel Bleisoldaten für die Jungen und Miniatur- püppchen für die Mädchen. Aber auch das wäre in Ord- nung gewesen – etwas Hartes und Buntes, um zu bewei- sen, daß Miss Snell doch ein Mensch war, etwas, was man aus der Tasche ziehen und beiläufig den Taylor- Zwillingen zeigen konnte. (»Nein, nicht gerade eine Party, aber sie hat uns kleine Geschenke gegeben. Schaut.«)
»John Gerhardt«, sagte Miss Snell, »wenn du auf nichts
anderes achten kannst als die ... Sachen auf meinem Schreibtisch, dann räume ich sie vielleicht besser weg.« Die Klasse kicherte kurz, und Miss Snell lächelte. Es war ein kleines, schüchternes Lächeln, das gleich wieder ver schwand, bevor sie sich erneut dem Rechtschreibbuch zuwandte, aber es reichte aus, um die Anspannung zu lockern. Während die Rechtschreibhefte eingesammelt wurden, lehnte sich Howard White zu John Gerhardt und flüsterte: »Krawattennadeln. Ich wette, es sind Krawat- tennadetn für die Jungen und irgendein Schmuck für die Mädchen.«
»Psst!« sagte John, aber dann fügte er hinzu: »Zu dick für Krawattennadeln.« Es herrschte allgemeine Unruhe; alle rechneten damit, daß die Party beginnen würde, sobald Miss Snell alle Rechtschreibhefte hatte. Statt des- sen bat sie um Ruhe und begann den Nachmittagsunter- richt in Verkehrserziehung.
Der Nachmittag schritt voran. Jedesmal, wenn Miss Snell auf die Uhr blickte, erwarteten die Kinder, daß sie sagte: »Ach, du liebe Zeit – jetzt hätte ich beinahe etwas vergessen.« Aber sie tat es nicht. Es war kurz nach zwei Uhr, der Unterricht wäre in weniger als einer Stunde vor- bei gewesen, als Miss Snell durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. »Ja?« sagte sie gereizt. »Was ist?«
Die kleine Grace Taylor trat ein, mit einem halben Stück Napfkuchen in der Hand und der anderen Hälfte im Mund. Sie zeigte sich höchst überrascht, daß die Klasse Unterricht hatte – sie wich einen Schritt zurück und bedeckte mit der freien Hand den Mund.
»Nun?« fragte Miss Snell. »Willst du etwas?«
»Mrs. Cleary möchte wissen, ob –«
»Mit vollem Munde spricht man nicht.«
Grace schluckte. Sie ließ sich überhaupt nicht ein- schüchtern. »Mrs. Cleary möchte wissen, ob Sie übrige Pappteller haben.«
»Ich habe keine Pappteller«, sagte Miss Snell. »Und wür- dest du Mrs. Cleary freundlicherweise davon in Kenntnis setzen, daß wir Unterricht haben?«
»In Ordnung.« Grace nahm einen weiteren Bissen von ihrem Kuchen und drehte sich um, um zu gehen. Ihr Blick fiel auf die Geschenke, und sie hielt inne, um sie zu betrachten. Zweifellos war sie nicht beeindruckt.
»Du hältst den Unterricht auf«, sagte Miss Snell. Grace setzte sich wieder in Bewegung. An der Tür warf sie der Klasse einen durchtriebenen Blick zu, kicherte kurz und kuchenkrümelnd und glitt dann hinaus.
Der Minutenzeiger kroch hinunter auf halb drei und schlich weiter zu Viertel vor. Schließlich, um fünf vor drei, legte Miss Snell das Buch aus der Hand. »Gut«, sagte sie. »Ich denke, wir können jetzt alle unsere Bücher weg- legen. Das ist der letzte Schultag vor den Ferien, und ich habe eine ... kleine Überraschung für euch vorbereitet.« Wieder lächelte sie. »Ich glaube, am besten bleibt ihr alle sitzen, und ich
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