Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Howard White. »Eine Stadt.«
»Nein, ich meine, wißt ihr, was sie dort tun? Sie tau- schen dort bei allen Zügen, die nach New York fahren, die Dampflokomotiven gegen elektrische aus. Mrs. Cleary sagt, wir werden zuschauen, wie sie die Lokomotiven wechseln und so.«
»Wir werden praktisch den ganzen Tag dort verbrin- gen«, sagte Grace.
»Und was ist so toll daran?« fragte Howard White. »Wenn ich will, kann ich jeden Tag dorthin, mit dem Fahrrad.« Das war übertrieben, denn er durfte mit dem Fahrrad nicht über einen Umkreis von zwei Blocks hin- ausfahren, aber es klang gut, vor allem als er hinzufügte: »Dafür brauche ich keine Mrs. Cleary«, wobei er »Cleary« affektiert und weinerlich betonte.
»An einem Schultag?« fragte Grace. »Darfst du an einem Schultag hinfahren?«
Howard murmelte lahm: »Klar, wenn ich will«, aber der Punkt ging eindeutig an die Zwillinge.
»Mrs. Cleary hat gesagt, daß wir ganz viele Ausflüge machen«, sagte Freddy. »Später werden wir ins Natur- kundemuseum nach New York fahren und noch an viele andere Orte. Schade, daß ihr nicht in Mrs. Clearys Klasse seid.«
»Macht mir gar nichts aus«, sagte John Gerhardt. Dann gab er ein Zitat zum besten, das direkt von seinem Vater stammte und ihm passend erschien: »Außerdem gehe ich nicht in die Schule, um herumzualbern. Ich gehe in die Schule, um zu arbeiten. Komm, Howard.«
Ein oder zwei Tage später stellte sich heraus, daß beide Klassen gemeinsam den Ausflug machen sollten; Miss Snell hatte vergessen, ihren Schülern davon zu erzählen. Als sie es ihnen mitteilte, war sie gut gelaunt. »Ich den- ke, der Ausflug wird besonders nützlich sein«, sagte sie, »weil er lehrreich sein wird und zugleich ein besonderes Vergnügen für uns alle.« Am Nachmittag brachten John Gerhardt und Howard White den Zwillingen die Neuig- keit mit einstudierter Beiläufigkeit und heimlicher Freude bei.
Aber es war ein kurzlebiger Sieg, denn der Ausflug unterstrich nur die Unterschiede zwischen den beiden Lehrerinnen. Mrs. Cleary machte alles mit Charme und Begeisterung; sie war jung und geschmeidig und mit die hübscheste Frau, die Miss Snells Klasse je gesehen hatte. Sie war es, die es den Kindern ermöglichte, den Führer- stand einer riesigen Lokomotive, die ungenutzt auf einem Nebengleis stand, zu besichtigen, und sie war es, die her- ausfand, wo sich die öffentlichen Toiletten befanden. Die langweiligsten Fakten über Züge wurden mit Leben er- füllt, wenn sie sie erklärte; die unfreundlichsten Lokfüh- rer und Weichensteller wurden zu herzlichen Gastgebern, wenn sie sie anlächelte, während ihr langes Haar im Wind wehte und ihre Hände unbekümmert in den Taschen ihres Kamelhaarmantels steckten.
Währenddessen hielt sich Miss Snell im Hintergrund, hager und sauertöpfisch, die Schultern gegen den Wind hochgezogen, der Blick aus ihren zusammengekniffenen Augen schweifte umher auf der Suche nach Nachzüglern. Einmal ließ sie Mrs. Cleary warten, während sie die eigene Klasse beiseite nahm und verkündete, daß es kei- ne Ausflüge mehr geben werde, wenn sie nicht lernten, als Gruppe zusammenzubleiben. Sie verdarb alles, und als der Ausflug zu Ende war, schämten sie sich schreck- lich für sie. Miss Snell hatte jede nur erdenkliche Mög- lichkeit gehabt, sich an diesem Tag zu bewähren, und jetzt war ihr Versagen ebenso schmählich wie enttäu- schend. Und das Schlimmste daran war: Sie war so er- bärmlich – die Schüler wollten sie in ihrem tristen, schweren schwarzen Mantel und mit ihrem Hut nicht einmal ansehen. Sie wollten nur, daß sie so schnell wie möglich in den Bus stieg, in die Schule zurückkehrte und außer Sichtweite wäre.
Jeder der Herbstfeiertage sorgte für eine besondere Atmosphäre an der Schule. Zuerst kam Halloween, und mehrere Stunden des Zeichenunterrichts wurden dafür verwendet, mit Wachsmalstiften Kürbislaternen und schwarze Katzen mit Buckel zu malen. Thanksgiving war wichtiger; eine oder zwei Wochen malten die Kinder Trut- hähne, Füllhörner und braun gekleidete Pilgervater mit hohen Hüten und Gewehren mit Läufen wie Trompeten, und im Musikunterricht sangen sie immer wieder »We Gather Together« und »America the Beautiful«. Und kaum war Thanksgiving vorbei, begannen die langwierigen Vor- bereitungen für Weihnachten: Rot und Grün waren die vorherrschenden Farben, und für das jährliche Weihnachts- spiel wurden Lieder geübt. Jeden Tag waren die Flure üppiger mit
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