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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Touristen, die ihn anrempelten, in ein grelles Licht, so daß er jede einzelne ihrer Poren sah, die Anspannung, die ihre ladenneue Frei- zeitkleidung, ihre fest umklammerten Koffer und um den Hals getragenen Fotoapparate ausdrückten, die Unruhe ihrer lächelnden und rufenden Münder. Cannes wäre wie alle anderen Urlaubsorte auf der Welt, nur Hetze und Enttäuschung, und warum war er nicht geblieben, wo er hingehörte, in einem hohen kühlen Raum mit einem langbeinigen Mädchen? Warum zum Teufel hatte er sich überreden und hierherlocken lassen?
     Aber dann sah er Kens glückliches Gesicht in der Menge auftauchen – »Carson!« –, und da kam er schon, rannte auf die Art eines übergroßen dicken Jungen, dessen Ober- schenkel aneinander reiben, unbeholfen vor Freude. »Dort drüben steht das Taxi, ich nehme deine Tasche – Junge, du siehst vielleicht fertig aus! Du solltest erst mal duschen und was trinken, okay? Wie geht's dir, verdammt noch mal?«
     Und als er bequem in den Polstern des Taxis saß und sie auf die Croisette bogen mit ihrem spektakulären Leuch- ten in Blau und Gold und der starken Meeresbrise, die das Blut erfrischte, begann Carson, sich zu entspannen. Schau dir die Mädchen an! Es gab Tausende von ihnen; und außerdem tat es gut, wieder mit dem alten Ken zusammenzusein. Wahrscheinlich hätte sich die Sache in Paris nur verschlimmert, wäre er geblieben. Er war genau zu rechten Zeit abgereist.
     Ken konnte nicht aufhören zu reden. Während Carson duschte, kam er immer wieder ins Badezimmer, klim- perte mit den Münzen in seiner Tasche und redete mit der lachenden überschäumenden Freude eines Mannes, der seit Wochen seine eigene Stimme nicht mehr gehört hatte. Tatsächlich ging es Ken nie gut, wenn Carson nicht dabei war. Sie waren die besten Freunde, aber es war keine ausgewogene Freundschaft, und beide wußten es. In Yale wäre Ken wahrscheinlich von allem ausgeschlos- sen gewesen, wenn er nicht den Status von Carsons lang- weiligem, aber unzertrennlichen Freund innegehabt hätte, und dieses Muster setzte sich in Europa fort. Was hatte Ken an sich, das die Menschen abstieß? Carson hatte jahrlang über diese Frage nachgedacht. Lag es daran, daß er dick und körperlich unbeholfen war oder daß er in seinem Eifer, gemocht zu werden, schrill und albern sein konnte? Aber waren das nicht letztlich liebenswerte Eigenschaften? Nein, Carson glaubte, daß die beste Erklä- rung, die er gefunden hatte, in Kens Oberlippe bestand, die sich zurückzog, wenn er lächelte, und eine schmale, feuchte innere Lippe entblößte, die auf dem Zahnfleisch zitterte. Viele Menschen mit so einem Mund empfin- den ihn nicht als großes Handicap – Carson war wil- lens, das zuzugeben –, aber bei Ken Platt schien es das zu sein, woran sich alle am lebhaftesten erinnerten, welche bedeutender klingende Gründe, ihn zu meiden, sie auch anführen mochten; jedenfalls war es dieser Mund, der Carson in Augenblicken der Irritation stets am meisten auffiel. Jetzt zum Beispiel, als er der schlichten Aufgabe nachging, sich abzutrocknen, sein Haar zu kämmen und frische Kleidung anzuziehen, kam ihm dieses breite, be- bende, doppellippige Lächeln immer wieder in die Quere. Es war überall, blockierte seinen Griff zum Handtuch- ständer, hing zu nahe über seinem unordentlich gepack- ten Koffer, schwamm im Spiegel, um ihm das Binden der Krawatte zu verdunkeln, bis Carson die Zähne zusam menbeißen mußte, um nicht laut herauszubrüllen: »Ist ja gut, Ken – jetzt halt mal die Klappe.«
     Aber ein paar Minuten später waren sie in der schattigen Stille der Hotelbar in der Lage, sich wieder zu beruhigen. Der Barmann schalte eine Zitrone, faßte einen Strei- fen helle Schale sauber zwischen Daumen und Messer- klinge und zog ihn ab, und der feine Zitrusduft, ver- mischt mit dem Geruch des Gins im blassen Dampf der zerstoßenen Eiswürfel, verlieh der Wiederherstellung ihres Wohlbehagens Geschmack. Der Rest von Carsons Gereiztheit ertrank in zwei kalten Martinis, und als sie das Hotel verließen und draußen auf dem Gehsteig zum Abendessen schlenderten, fühlte er sich durch die alte Kameraderie und die vertraute überschäumende Fülle von Kens Bewunderung gestärkt. Eine Spur von Traurig- keit schlich sich ein, denn Ken würde bald in die Ver- einigten Staaten zurückkehren müssen. Sein Vater in Den- ver, der Verfasser sarkastischer wöchentlicher Briefe auf Firmenbriefpapier, hielt ihm eine Teilhaberschaft offen, und Ken,

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