Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Barhocker. »Wenn Sie mich entschuldigen, ich muß jetzt arbeiten.«
»Noch nicht viel Publikum da«, sagte Ken.
Sid zuckte die Achseln. »An einem Ort wie diesem ist
mir das lieber. Wenn eine Menge Leute da sind, verlangt irgendein Spießer immer ›Deep in the Heart of Texas‹ oder so was ähnliches.«
Ken lachte und zwinkerte Carson zu, und beide wand- ten sich um, um zuzusehen, wie Sid sich ans Klavier setzte, das auf einem niedrigen, von einem Schweinwerfer ange- strahlten Podium auf der anderen Seite des Raums stand. Er schlug eine Weile müßig ein paar Töne an und spielte vereinzelte Phrasen und Akkorde, ein Handwerker, der sein Werkzeug liebkost, und dann begann er. Ein un- widerstehlicher Rhythmus trat hervor, und darüber legte sich das Auf und Ab der Melodie, ein Arrangement von »Baby, Won't You Please Come Home«.
Sie blieben mehrere Stunden, hörten Sid beim Spielen zu und kauften ihm Drinks, wann immer er eine Pause machte, zum unübersehbaren Neid der anderen Gäste. Sids Mädchen kam, groß und braunhaarig, mit einem strahlenden, überraschten Gesicht, das nahezu schön war, und Ken stellte sie mit einer kleinen, unkontrollier- ten schwungvollen Geste vor: »Das ist Jaqueline.« Sie flü sterte, daß sie nicht sehr gut Englisch spreche, und als Sid die nächste Pause machte – die Bar füllte sich zunehmend, und es gab beträchtlichen Applaus, als er aufstand –, setzten sich die vier an einen Tisch.
Ken überließ jetzt Carson das Reden; er war mehr als zufrieden, nur dazusitzen und den Tisch voller Freunde mit der heiteren Gelassenheit eines wohlgenährten jun- gen Priesters anzulächeln. Es war sein glücklichster Abend in Europa, und das in einem Ausmaß, das sich selbst Car- son nicht hätte vorstellen können. Innerhalb weniger Stunden füllte dieser Abend die Leere des vergangenen Monats, der Zeit, die begonnen hatte, als Carson sagte: »Dann fahr doch. Kannst du nicht allein nach Cannes fahren?« Dieser Abend machte all die heißen Kilometer wieder gut, die Ken auf brennenden Pulsen entlang der Croisette auf und ab gegangen war, um wie ein Idiot die Mädchen anzustarren, die unglaublicherweise nahezu nackt im Sand lagen; die überfüllten, langweiligen Bus- fahrten nach Nizza und Monte Carlo und St. Paul-de-Vence; den Tag, an dem er einem bösartigen Drogisten den drei- fachen Preis für eine Sonnenbrille bezahlt hatte, nur um dann, als er sich im Vorübergehen in einem glänzenden Schaufenster sah, festzustellen, daß er damit ausschaute wie ein großer blinder Fisch; das schreckliche Gefühl, das ihn Tag und Nacht verfolgte, jung, reich, frei und an der Riviera – an der Riviera! – zu sein und nichts zu tun zu haben. In der ersten Woche war er einmal zu einer Prostituierten gegangen, deren gerissenes Lächeln, deren schrilles Beharren auf einem hohen Preis und deren an- gewidert zuckendes Gesicht angesichts seines Körpers ihn in eine solche Agonie versetzten, daß er impotent gewe- sen war; an den meisten anderen Abenden war er betrun- ken und elend von Bar zu Bar gezogen, voller Angst vor Prostituierten und Zurückweisungen anderer Mädchen, ja, er wagte es nicht einmal, mit Männern zu sprechen, um nicht für schwul gehalten zu werden. Einen ganzen Nachmittag hatte er in einem billigen Warenhaus ver- bracht, so getan, als würde er sich für Vorhängeschlösser, Rasiercreme und billiges Blechspielzeug interessieren, und sich durch die helle abgestandene Luft des Ladens mit vor Heimweh zugeschnürter Kehle bewegt. Fünf Aben- de hintereinander hatte er sich in der schützenden Dun- kelheit amerikanischer Filme versteckt, so wie er es Jahre zuvor in Denver getan hatte, um den Jungen zu entkom- men, die ihn Fettarsch Platt nannten, und nachdem er sich zum letzten Mal auf diese Weise zerstreut hatte, hatte er sich, zurück im Hotel und den widerlichen Geschmack von Schokolade noch im Mund, in den Schlaf geweint. Aber all das löste sich jetzt in der großartigen, verwege- nen Eleganz von Sids Klavierspiel auf, im Bann von Car- sons intelligentem Lächeln und in der Art und Weise, wie Carson nach jedem Stück die Hände hob, um zu klat- schen.
Nach Mitternacht, als alle außer Sid zu viel getrunken hatten, fragte Carson ihn, wie lange er schon aus den Ver- einigten Staaten fort war. »Seit dem Krieg«, sagte er. »Ich kam mit der Army ruber und bin nie zurückgekehrt.«
Ken, überzogen von einem Film aus Schweiß und Glück, hob rasch das Glas hoch, um
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