Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
der die Kurse an der Sorbonne – der vorgescho- bene Grund für seinen Aufenthalt in Frankreich – längst absolviert hatte, hatte keine weitere Ausrede mehr, um zu bleiben. Carson, der in dieser wie in allen anderen Be- ziehungen vom Glück begünstigter war, brauchte keine Ausrede: Er hatte ein angemessenes privates Einkom- men und keine familiären Bindungen; er konnte es sich leisten, sich jahrelang in Europa umzusehen, wenn ihm danach war, auf der Suche nach Dingen, die ihm gefielen.
»Du bist noch immer kreideweiß«, sagte er zu Ken über den Restauranttisch hinweg. »Warst du nicht am Strand?«
»Klar doch.« Ken blickte rasch auf seinen Teller. »Ich war ein paarmal am Strand. Aber in letzter Zeit war das Wetter nicht gut genug dafür.«
Aber Carson ahnte den wahren Grund, nämlich daß es Ken peinlich war, den eigenen Körper zur Schau zu stellen, und deswegen wechselte er das Thema. »Ach, übrigens«, sagte er. »Ich habe das IBF-Zeug für deinen Klavierspielerfreund mitgebracht.«
»Oh, großartig.« Ken blickte aufrichtig erleichtert auf. »Wir gehen hin, sobald wir mit dem Essen fertig sind, okay?« Und als ob er das Vorhaben beschleunigen wollte, schaufelte er sich eine tropfende Ladung Salat in den Mund und riß ein zu großes Stück Brot ab, das er mit dem Salat aß, während er das verbliebene Stück dazu benutzte, Essig und Öl auf seinem Teller aufzutunken. »Du wirst ihn mögen, Carson«, sagte er sachlich, wäh- rend er kaute. »Er ist ein großartiger Typ. Ich bewundere ihn wirklich sehr.« Er schluckte unter Mühen und fuhr rasch fort: »Ich meine, verdammt, mit so einem Talent könnte er morgen nach Amerika zurückgehen und ein Vermögen machen, aber ihm gefällt es hier. Zum einen hat er natürlich ein Mädchen hier, diese wirklich hüb- sche Französin, und vermutlich kann er sie nicht einfach mitnehmen – nein, aber ehrlich, es ist mehr als das. Die Leute akzeptieren ihn hier. Als Künstler, meine ich, und als Mensch. Niemand behandelt ihn von oben herab, nie- mand versucht, sich in seine Musik einzumischen, und mehr will er nicht im Leben. Also, ich meine, das sagt er nicht – er wäre wahrscheinlich ein Langweiler, wenn er es täte –, aber man spürt es. Bei allem, was er sagt, hört man es heraus, seine ganze geistige Einstellung.« Er schob sich das vollgesogene Brot in den Mund und kaute mit Nachdruck. »Ich meine, der Typ ist echt integer«, sagte er. »Wunderbarer Typ.«
»Klang wie ein verdammt guter Klavierspieler«, sagte Carson und griff nach der Weinflasche, »das bißchen, was ich gehört habe.«
»Warte nur, bis du ihn wirklich hörst. Warte nur, bis er richtig loslegt.«
Beide genossen es, daß Sid Kens Entdeckung war. Bis- lang war es immer Carson gewesen, der voranging, die Mädchen fand und die Sprache lernte und wußte, wie man jede Stunde am besten verbrachte; es war Carson gewesen, der die wirklich ausgefallenen Orte in Paris auf- spürte, an denen man nie Amerikaner sah, und der dann, als Ken lernte, eigene Orte zu finden, Harry's Bar parado- xerweise zum ausgefallensten aller Orte erkor. Ken war ihm immer gern gefolgt, hatte verwundert den dank- baren Kopf geschüttelt, aber es war keine Kleinigkeit ge- wesen, in den Seitenstraßen einer fremden Stadt ganz allein ein unbestechliches Jazztalent aufzutreiben. Es be- wies, daß Kens Abhängigkeit letztlich doch nicht voll- kommen sein konnte, und das war beiden hoch anzu- rechnen.
Der Ort, an dem Sid spielte, war mehr eine teure Bar als ein Nachtclub, ein kleiner, mit Teppich ausgelegter Keller ein paar Straßenzüge vom Meer entfernt. Es war noch früh, und sie fanden Sid allein an der Bar trinkend vor.
»Ah«, sagte er, als er Ken sah. »Hallo.« Er war stämmig
und gut gekleidet, ein sehr dunkler Neger mit einem schönen Lachein voller kräftiger weißer Zähne.
»Sid, ich möchte Ihnen Carson Wyler vorstellen. Sie haben mit ihm damals telefoniert, erinnern Sie sich?«
»O ja«, sagte Sid und schüttelte ihm die Hand. »O ja.
Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Carson. Was trin- ken die Herren?«
Sie machten eine kleine Zeremonie daraus, den Anstek- ker am Revers von Sids braunem Gabardine Jackett anzu- bringen, mit den Fingern über seine Schulter zu summen und ihm die Schultern ihrer identischen Leinenjacketts zum gleichen Zweck anzubieten. »Das ist gut«, sagte Sid und blätterte in dem Büchlein. »Sehr gut.« Dann steckte er es in die Tasche, trank aus und glitt vom
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