Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
zuhielt und Fragen in den Hörer schrie, begriff er endlich, daß es nur Ken Platt war, der anrief, um einen gedankenlosen Plausch mit seinem Freund Carson Wyler zu halten, und darauf- hin schüttelte er verärgert den Kopf und stellte das Tele- fon auf den Tresen neben Carsons Glas mit Pernod.
»Hier«, sagte er. »Es ist für dich, Herrgott noch mal. Dein Kumpel.« Wie einige andere Pariser Barmänner kannte er beide ziemlich gut: Carson war der Gutaussehende, der mit dem schmalen geistreichen Gesicht und dem eng- lisch klingenden Akzent; Ken war der Dicke, der immer lachte und hinterhertrottete. Vor drei Jahren hatten beide das Studium in Yale abgeschlossen, und jetzt versuchten sie, so viel Spaß wie möglich aus dem Leben in Europa zu ziehen.
»Carson?« sagte Kens beflissene Stimme und vibrierte schmerzhaft im Hörer. »Hier spricht Ken – ich wußte, daß ich dich dort erreiche. Hör mal, wann kommst du runter?«
Carson runzelte die wohlgeformte Stirn. »Du weißt doch, wann ich komme«, sagte er. »Ich habe dir ein Tele- gramm geschickt, daß ich am Samstag komme. Was ist los mit dir?«
»Himmel, nichts ist los mit mir – vielleicht bin ich ein bißchen betrunken, das ist alles. Nein, aber hör mal, wes- wegen ich eigentlich anrufe, hier ist ein Mann namens Sid, ein wirklich guter Jazzpianist, und ich will, daß du ihn dir anhörst. Er ist ein Freund von mir. Warte mal. Ich geh' mit dem Telefon so nah, daß du ihn hören kannst. Hör mal, jetzt. Moment noch.«
Es folgten verzerrte kratzende Geräusche und Kens Lachen und das Lachen von jemand anders, und dann hörte er das Klavier. Durch das Telefon klang es blechern, aber Carson wußte, daß es gut war. Es war »Sweet Lor- raine«, gespielt auf klangvolle traditionelle Weise, es hatte nichts Kommerzielles, und das überraschte ihn, denn Ken verstand normalerweise nichts von Musik. Nach einer Minute reichte er den Hörer einem Fremden, mit dem zusammen er getrunken hatte, einem Vertreter für land- wirtschaftliche Maschinen aus Philadelphia. »Hören Sie sich das an«, sagte er. »Das ist erstklassig.«
Der Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen hielt sich mit verwirrter Miene den Hörer ans Ohr. »Was ist das?«
»Sweet Lorraine«.«
»Nein, ich meine, worum geht es? Woher kommt das?«
»Aus Cannes. Jemand, den Ken dort unten aufgetan hat. Sie haben Ken doch kennengelernt, oder?«
»Nein, habe ich nicht«, sagte der Vertreter und runzelte die Stirn. »Hier, es hat aufgehört, und jemand spricht. Sie gehen besser wieder ran.«
»Hallo? Hallo?« sagte Kens Stimme. «Carson?«
»Ja, Ken. Ich bin wieder da.«
»Wo warst du? Wer war der Mann?«
»Das war ein Herr aus Philadelphia namens –« Er blickte
fragend auf.
»Baidinger«, sagte der Vertreter und zog sein Jackett zurecht.
»Namens Mr. Baidinger. Er steht hier mit mir an der Bar.«
»Oh. Also, wie hat dir Sid gefallen?«
»Sehr gut, Ken. Richte ihm aus, ich hätte gesagt, er wäre
erstklassig.«
»Willst du mit ihm sprechen? Er steht hier, einen Moment.«
Es folgten wieder obskure Geräusche, und dann sagte eine tiefe, nicht mehr junge Stimme: »Hallo.«
»Guten Abend, Sid. Ich heiße Carson Wyler, und mir hat sehr gut gefallen, wie Sie gespielt haben.«
»Danke«, sagte die Stimme. »Vielen Dank. Freut mich.« Es konnte sowohl die Stimme eines Farbigen als auch eines Weißen sein, aber Carson vermutete, daß es ein Far- biger war, vor allem wegen der leisen Spur von Befangen- heit und gleichzeitigem Stolz, mit der Ken gesagt hatte: »Er ist ein Freund von mir.«
»Ich komme am Wochenende nach Cannes, Sid«, sagte Carson, »und ich freue mich schon –«
Aber Sid hatte den Hörer offensichtlich zurückgegeben, denn Ken schaltete sich ein. »Carson?«
»Was?«
»Wann kommst du am Samstag? Ich meine, mit wel-
chem Zug?« Ursprünglich hatten sie vorgehabt, zusam- men nach Cannes zu fahren, aber Carson hatte sich in Paris mit einem Mädchen eingelassen, und Ken war allein gefahren unter der Bedingung, daß Carson eine Woche später nachkommen würde. Jetzt war schon fast ein Mo- nat vergangen.
»Ich weiß den genauen Zug nicht«, sagte Carson etwas ungeduldig. »Ist doch egal, oder? Ich sehe dich irgend- wann am Samstag im Hotel.«
»Okay. Ach, und noch was, der andere Grund, warum ich anrufe, ich möchte für Sid bürgen, damit er in den IBF aufgenommen wird, okay?«
»In Ordnung. Gute Idee. Gib ihn mir noch mal.« Und
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