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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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erschrek- kend leise nach dem Jazz und dem wahnwitzigen Ge- brüll. Er ging, ohne zu wissen wohin und ohne Gefühl für die Zeit, nahm nichts wahr außer dem Hämmern seiner Absätze, dem Stoßen und Ziehen seiner Muskeln, seinem zittrigen Einatmen und scharfen Ausatmen und dem Pum- pen seines Herzens.
     Er wußte nicht, ob zehn Minuten vergangen waren oder eine Stunde, ob er zwanzig oder fünf Blocks weit mar- schiert war, bevor er den Schritt verlangsamen mußte und am Rand einer kleinen Menschenmenge stehenblieb, die sich um einen erleuchteten Hauseingang scharte. Polizisten forderten die Leute auf, weiterzugehen.
     »Bitte weitergehen«, sagte ein Polizist. »Bitte, gehen Sie weiter. Weitergehen.«
     Aber Fallon blieb wie die meisten anderen stehen. Es war der Eingang zu einer Art Vortragssaal – er erkannte es an dem Schwarzen Brett, das unter den gelben Lichtern im Inneren gerade noch zu sehen war, und an der Mar- mortreppe, die zu einem Saal hinaufführen mußte. Aber es waren vor allem die Anführer der Demonstranten, die seine Aufmerksamkeit erregten: drei Männer, in etwa so alt wie er, ihre Augen leuchteten vor Rechtschaffenheit. Sie trugen die blaugoldenen Überseekappen einer Vetera- nenorganisation und hielten Plakate hoch, auf denen stand:

    RÄUCHERT DEN KOMMUNISTEN AUS
    PROF. MITCHELL, GEHEN SIE ZURÜCK NACH RUSSLAND DIE KÄMPFENDEN SÖHNE AMERIKAS PROTESTIEREN GEGEN MITCHELL

    »Bitte weitergehen«, sagten die Polizisten. »Gehen Sie bitte weiter.«
     »Bürgerrechte, so eine Scheiße«, murmelte eine tiefe Stimme neben Fallons Ellbogen. »Diesen Mitchell sollte man einsperren. Haben Sie gelesen, was er in der Anhö- rung im Senat gesagt hat?« Und Fallon nickte und er- innerte sich an ein snobistisches Gesicht mit feinen Zügen, das er auf mehreren Zeitungsfotos gesehen hatte.
     »Schauen Sie«, sagte die murmelnde Stimme. »Da kom- men sie. Sie kommen jetzt raus.«
     Und so war es. Sie kamen die Marmortreppe herunter, gingen am Schwarzen Brett vorbei und hinaus auf den Gehsteig: Männer in Regenmänteln und schmierigen Tweedanzügen, mürrische Mädchen in engen Hosen, die nach Greenwich Village aussahen, ein paar Neger, ein paar wenige sehr adrette, unsichere College-Studenten.
     Die Demonstranten wurden zurückgedrängt und stan- den still, hielten mit einer Hand ihre Plakate hoch und hoben die andere an den Mund, um »Bu-uh! Buuuh!« zu schreien.
     Die Menge nahm den Ruf auf: »Buuuh! Buuuh!« Und jemand schrie: »Geht doch nach Rußland!«
     »Bitte weitergehen«, sagten die Polizisten. »Gehen Sie bitte weiter. Bitte weitergehen.«
     »Da ist er«, sagte die murmelnde Stimme. »Da kommt er – das ist Mitchell.«
     Und Fallon sah ihn: einen großen, schlanken Mann in einem billigen Zweireiher, der ihm zu groß war, mit einer Aktenmappe in der Hand und flankiert von zwei unscheinbaren Frauen mit Brille. Da war das snobistische Gesicht von den Zeitungsfotos, das sich langsam von einer Seite zur anderen wandte, mit einem ruhigen, über- legenen Lächeln, das jedem, auf den es fiel, zu sagen schien: Oh, du armer Dummkopf. Du armer Dummkopf.
      »BRINGT den Dreckskerl um!«
     Erst als sich einige Leute plötzlich umdrehten und ihn ansahen, bemerkte Fallon, daß er brüllte; dann wußte er nur noch, daß er weiterbrüllen mußte, bis seine Stim- me wie bei einem weinenden Kind brach: »BRINGT den Dreckskerl um! BRINGT ihn um! BRINGT ihn um!«
     Mit vier angriffslustigen großen Schritten drängte er sich durch die Menge; dann ließ einer der Demonstran- ten sein Plakat fallen, trat zu ihm und sagte: »Nur die Ruhe, Mann. Immer mit der Ruhe – « Aber Fallon schüt- telte ihn ab, rang kurz mit einem anderen Mann, befreite sich aus dessen Griff, packte Mitchell mit beiden Händen am Revers und riß ihn wie eine in sich zusammensackende Marionette zu Boden. Er sah, wie Mitchell auf dem Geh- steig sabbernd vor Entsetzen zurückwich, und das letzte, was er empfand, als sich der blaue Arm eines Polizisten über seinen Kopf hob, war ein Gefühl vollkommener Er- füllung und Erleichterung.

Ein wirklich guter Jazzpianist

    Wegen des mitternächtlichen Lärms an beiden Enden der Leitung herrschte in Harry's New York Bar Verwirrung, als der Anruf durchgestellt wurde. Zuerst begriff der Bar- mann nur, daß, es ein Ferngespräch aus Cannes war, offenbar aus irgendeinem Nachtclub, und die hektische Stimme der Telefonistin ließ es wie einen Notfall klingen. Aber dann, als er sich das freie Ohr

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