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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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wurden.
     Auch Murray Diamond schaute kurz zu ihnen – ein hartes, kleines gebräuntes Gesicht –, dann räusperte er sich und sagte: »Wie wäre es mit ›Hold Me‹, Sid? Können Sie ›Hold Me‹ spielen?« Und Sid setzte sich, begann zu spielen und starrte ins Leere.
     Würdevoll bat Carson mit einem Kopfnicken um die Rechnung und legte die korrekte Anzahl an Tausend- und Hundert-Franc-Scheinen auf die Untertasse. Im Nu ver- ließ er das Lokal, glitt gekonnt zwischen den Tischen hindurch zur Treppe, während Ken wesentlich länger brauchte. Er schlingerte und schwankte in der rauchigen Luft wie ein großer gefangener Bär, und noch bevor er am letzten Tisch vorbei war, fing er Jaquelines Blick auf, die ihn unverwandt ansah. Ihre Augen starrten erbar- mungslos auf sein mattes, unsicheres Lächeln, sie bohr- ten sich ihm in den Rücken und ließen ihn die Treppe hinauffallen. Und kaum stand er in der ernüchternden Nachtluft, kaum sah er Carsons aufrechte, weiß geklei- dete Gestalt ein paar Türen weiter, wußte er, was er tun wollte. Er wollte zu ihm laufen und ihn mit ganzer Kraft zwischen die Schulterblätter schlagen, ein heftiger, kra- chender Schlag, der ihn auf die Straße werfen würde, und dann wollte er ihn weiter schlagen oder ihn treten – ja, ihn treten – und sagen, verdammt sollst du sein, Carson, verdammt! Die Worte befanden sich bereits in seinem Mund, und er wollte ausholen, als Carson stehenblieb und sich unter einer Straßenlampe zu ihm umdrehte.
     »Was ist los, Ken?« fragte er. »Fandest du es nicht wit- zig?«
     Nicht das, was er sagte, war von Bedeutung – eine Weile schien es, als würde nichts, was Carson sagte, je wieder Bedeutung haben –, es lag daran, daß sein Gesicht von einem Ausdruck heimgesucht wurde, der Kens Herzen auf unheimliche Weise vertraut war, der Ausdruck, mit dem er selbst, Fettarsch Platt, sein ganzes Leben lang andere angesehen hatte: gehetzt, verletzlich und schreck- lich abhängig, der Versuch eines Lächelns, ein Blick, der sagte, bitte, laß mich nicht allein.
     Ken ließ den Kopf hängen, entweder aus Barmherzigkeit oder aus Scham. »Ich weiß nicht, Carson«, sagte er. »Ver- gessen wir's. Gehen wir irgendwo einen Kaffee trinken.«
     »Gut.« Und sie waren wieder zusammen. Das einzige Problem bestand jetzt darin, daß sie in die falsche Rich- tung losmarschiert waren: Um zur Croisette zu gelangen, mußten sie umkehren und an der erleuchteten Tür von Sids Bar vorbeigehen. Es war, als müßten sie durch Feuer gehen, aber sie brachten es rasch und, wie jeder gesagt hätte, vollkommen gefaßt hinter sich, mit erhobenen Köpfen, den Blick nach vorn gerichtet, so daß sie das Kla- vier nur ein, zwei Sekunden laut hörten, bevor es wieder leiser wurde und in ihrem Rücken im Rhythmus ihrer Schritte verklang.

Weg mit dem Alten

    Haus Sieben, das TB-Gebäude, hatte sich in den fünf Jah- ren, die seit dem Krieg vergangen waren, zunehmend vom Rest des Mulloy Veterans' Hospital distanziert. Es stand keine fünfzig Meter von Haus Sechs entfernt, dem Gebäude der doppelseitig Gelähmten – sie schauten alle auf dieselbe Fahnenstange auf demselben windgepeitsch- ten Flachland von Long Island –, aber es herrschte kein gutnachbarschaftliches Verhältnis mehr, seit die Gelähm- ten im Sommer 1948 eine Petition eingereicht und gefor- dert hatten, daß die TBs auf ihrem eigenen Rasen blieben. Das hatte damals für einigen Groll gesorgt (»Die gelähm- ten Dreckskerle glauben, daß ihnen das Gelände gehört«), aber das hatte schon lange keine Bedeutung mehr; eben- sowenig war es von Bedeutung, daß keiner aus Haus Sie- ben in den Krankenhausladen durfte, außer er versteckte sein Gesicht hinter einer sterilen Papiermaske.
     Wen kümmerte es schon? Haus Sieben war schließlich und endlich anders. Die ungefähr hundert Patienten der drei gelbgestrichenen Stationen waren im Lauf der Jahre fast alle mindestens ein-, zweimal entkommen und hoff- ten, endgültig entkommen zu können, sobald ihre Rönt- genaufnahmen keinen Befund mehr zeigten oder sie sich von unterschiedlichen Arten von Operationen erholt hätten; in der Zwischenzeit betrachteten sie Haus Sieben nicht als Zuhause oder auch nur als Leben, sondern als zeitlosen Schwebezustand zwischen Abschnitten, die sie, wie Häftlinge, »draußen« nannten. Und noch etwas: auf- grund der nicht-militärischen Natur ihrer Krankheit sahen sie sich in erster Linie nicht als »Veteranen« (außer viel- leicht an

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