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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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durch die Reihen der Zuhörer zu dem einzigen nicht besetzten Tisch im Raum, einem kleinen Tisch ganz vorn, zu nahe an der Musik und naß von vergossenen Getränken, der zur Seite ge- schoben worden war, um Platz für größere Gesellschaf- ten zu machen. Als sie saßen, sahen sie, daß Sid nicht wirklich in das Publikum schaute. Er sang für ein gelang- weilt wirkendes Paar in Abendgarderobe, das ein paar Tische weiter saß, ein silberblondes Mädchen, das ein Film- sternchen hätte sein können, und ein kleiner, rundlicher tiefgebräunter Mann mit Glatze, ein Mann, der so offen- sichtlich Murray Diamond war, daß ein Besetzungsbüro ihn hierhergeschickt haben könnte, um diese Rolle zu spielen. Manchmal blickten Sids große Augen in andere Ecken des Raums oder zur rauchverhangenen Decke, aber sie schienen nur etwas zu sehen, wenn er diese beiden Menschen fixierte. Auch als Sid verstummte und auf dem Klavier eine lange komplizierte Variation spielte, auch dann noch schaute er zu ihnen, um festzustellen, ob sie ihm zusahen. Als er das Stück beendete und der Applaus wie ein Donnerschlag einsetzte, hob der glatzköpfige Mann den Kopf, schloß die Lippen um eine bernsteinfarbene Ziga- rettenspitze und klatschte ein paarmal in die Hände.
     »Sehr nett, Sam«, sagte er.
     »Ich heiße Sid, Mr. Diamond«, sagte Sid, »trotzdem vie- len Dank. Freut mich, daß es Ihnen gefallen hat, Sir.« Er lehnte sich zurück, grinste an seiner Schulter entlang, während seine Finger mit den Tasten spielten. »Möchten Sie irgend etwas Besonderes hören, Mr. Diamond? Etwas Altes? Einen wirklich alten Dixieland? Vielleicht einen kleinen Boogie, vielleicht etwas Eingängiges, was wir eine kommerzielle Nummer nennen? Hier warten alle mög- lichen Melodien darauf, gespielt zu werden.«
     »Irgend etwas, Sid«, sagte Murray Diamond, und dann neigte sich die Blonde zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Wie wäre es mit ›Stardust‹, Sid?« sagte er. »Können Sie ›Stardust‹ spielen?«
     »Nun ja, Mr. Diamond. Wenn ich ›Stardust‹ nicht spie- len könnte, wäre ich wahrscheinlich nicht lange im Ge- schäft, weder in Frankreich noch in irgendeinem anderen Land.« Sein Grinsen verwandelte sich in ein tiefes fal- sches Lachen, und seine Hände glitten in die ersten Akkorde des Lieds.
     Und da machte Carson die erste freundliche Geste seit Stunden, und Kens Gesicht erglühte dankbar. Er zog sei- nen Stuhl nahe zu Kens und begann mit einer so leisen Stimme zu sprechen, daß niemand ihm hätte vorwerfen können zu stören. »Weißt du was?« sagte er. »Das ist widerlich. Mein Gott, mir ist egal, ob er nach Las Vegas will. Mir ist sogar egal, ob er dafür jemandem in den Arsch kriecht. Aber das ist was anderes. Dabei dreht sich mir der Magen um.« Er hielt inne, blickte stirnrunzelnd zu Boden, und Ken blickte auf die kleine wurmähnliche Ader in seiner Schläfe. »Diese geheuchelte Sprechweise«, sagte Carson. »Diese ganze falsche Onkel-Remus-Fas- sade.« Und dann schwang er sich zu einer kleinen, glotz- äugigen, kopfwackelnden, zischenden Parodie von Sid auf. »Jaa, Suh, Mr. Dahmon, Suh. Was möchtn See hörn, Mr. Dahmon, Suh? Hier wartn alle möglichn Melodien, ja, wartn drauf, gespielt zu wem, und bla, bla, bla und half s Maul!« Er trank sein Glas aus und stellte es mit einem Knall ab. »Du weißt verdammt gut, daß er nicht so reden muß. Du weißt verdammt gut, daß er ein intelligenter, gebildeter Mann ist. Mein Gott, am Telefon habe ich nicht einmal gemerkt, daß er ein Farbiger ist.«
    »Na ja«, sagte Ken. »Es ist irgendwie deprimierend.«
    »Deprimierend? Es ist unwürdig.« Carson schürzte die
    Lippen. »Es ist degeneriert.«
     »Ich weiß«, sagte Ken. »Ich denke mal, das ist teilweise, was ich mit sich prostituieren gemeint habe.«
     »Da hattest du auf jeden Fall recht. Das reicht verdammt noch mal fast aus, um das Vertrauen in die Negerrasse zu verlieren.«
     Die Bestätigung, daß er recht gehabt hatte, wirkte auf Ken immer wie ein Stärkungsmittel, und nach einem Tag wie diesem wirkte sie ungewöhnlich belebend. Er kippte seinen Drink, setzte sich aufrecht und wischte sich den schmalen Schnurrbart aus Schweiß von der Oberlippe, verzog grimmig den Mund, um zu zeigen, daß auch sein Vertrauen in die Negerrasse schwer erschüttert war. »Jun- ge«, sagte er. »Ich habe mir völlig falsche Vorstellungen von ihm gemacht.«
     »Nein«, versicherte ihm Carson, »das konntest du nicht wissen.«
     »Hör mal,

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