Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Weihnachten, wenn jeder ein vervielfältigtes Grußschreiben des Präsidenten und einen Fünf-Dollar- Schein vom New York Journal-American erhielt), und des- wegen fühlten sie sich den Verwundeten und Verstüm- melten auch nicht wirklich verbunden.
Haus Sieben war eine eigene Welt. Es bot täglich die Wahl zwischen seiner ganz eigenen Art von Tugend – im Bett zu bleiben – und seiner eigenen Art von Laster: mitternächtliche Würfelspiele, unerlaubtes Entfernen, das Hereinschmuggeln von Bier und Whiskey durch die Not- ausgänge der beiden Waschräume. Es war die Bühne für seine eigene Art von Komödie – zum Beispiel, als Snyder eines Nachts die diensthabende Schwester mit der Was- serpistole in den Röntgenraum jagte oder als die Halb- literflasche Bourbon aus dem Bademantel des alten Foley rutschte und vor Dr. Resnicks Füßen zerbrach – und hin und wieder für seine eigene Art von Tragödie – als sich Jack Fox im Bett aufsetzte und »Himmel noch mal, macht das Fenster auf« sagte, hustete und damit die schreckliche Blutung auslöste, die ihn innerhalb von zehn Minuten umbrachte, oder die zwei-, dreimal im Jahr, wenn je- mand zu einer Operation gefahren wurde, über Rufe wie »Nimm's leicht!« oder »Viel Glück, Junge!« lächelte und winkte und nie wieder zurückkam. Vor allem aber war Haus Sieben eine von ihrer ganz eigenen Art von Lange- weile verzehrte Welt, in der die Patienten zwischen Pa- piertaschentüchern und Spucknäpfen und dem ununter- brochenen Lärmen der Radios herumsaßen oder lagen.
So war es auch auf Station C am Silvesternachmittag, außer daß der Lärm der Radios in Tiny Kovacs' Gelächter unterging.
Er war ein riesiger dreißigjähriger Mann, einsfünfund- neunzig groß und breit wie ein Bär, und an diesem Nach- mittag unterhielt er sich mit seinem Preund Jones, der neben ihm komisch klein und mager wirkte. Sie flüster- ten miteinander und lachten – Jones kicherte nervös und kratzte sich wiederholt durch den Schlafanzug am Bauch, Tiny lachte laut und schallend. Nach einer Weile standen sie auf, noch rot vor Lachen, und gingen durch den Raum zu McIntyres Bett.
»He, Mac, hör mal«, sagte Jones. »Tiny und ich ha- ben 'ne Idee.« Dann mußte er kichern und sagte: »Erzähl du, Tiny.«
Das Problem war, daß McIntyre, ein zerbrechlicher Mann von einundvierzig Jahren mit einem zerfurchten sarkastischen Gesicht, zu dieser Zeit versuchte, einen wichtigen Brief zu schreiben. Aber beide verwechselten sein ungeduldiges Grimassieren mit einem Lächeln, und Tiny begann in gutem Glauben, die Idee zu erklären.
»Hör mal, Mac, heute gegen Mitternacht werde ich mich ganz ausziehen, verstehst du?« Er sprach unter Mühen, weil ihm sämtliche Vorderzähne fehlten; sie waren bald nach seiner Lunge verfault, und das Gebiß, das das Kran- kenhaus für ihn bestellt hatte, war längst überfällig. »Dann bin ich ganz nackt, nur daß ich ein Handtuch anhaben werde, verstehst du? Wie eine Windel. Und schau, das werde ich mir um die Brust binden.« Er entrollte einen etwa einen Meter langen Streifen einer zehn Zentimeter breiten Binde, auf den er oder Jones mit Wäschetinte in großen Zahlen »1951« geschrieben hatten. »Kapiert?« sagte er. »Ein großes dickes Baby? Ohne Zähne? Und du, Mac, du sollst das alte Jahr sein, okay? Du sollst das und das anziehen. Das wäre perfekt.« Auf der zweiten Binde stand »1950«, und der andere Gegenstand war ein falscher Bart aus Watte, den Tiny in einer Schachtel mit Rotkreuzvor- räten im Aufenthaltsraum gefunden hatte – er war offen- sichtlich Bestandteil eines alten Weihnachtsmannkostüms gewesen.
»Nein, danke«, sagte McIntyre. »Sucht jemand anders, okay?«
»Ach, Mensch, du mußt es machen, Mac«, sagte Tiny. »Wir sind alle im Haus durchgegangen, und du bist der einzige – verstehst du? Dünn, Glatze, ein paar graue Haare. Und am besten ist, daß du wie ich bist, du hast auch keine Zähne.« Und um klarzumachen, daß es nicht als Beleidigung gemeint war, fügte er hinzu: »Also, ich meine, du könntest sie zumindest rausnehmen, oder? Du könntest sie für ein paar Minuten rausnehmen und danach wieder reintun – oder?«
»Hör mal, Kovacs«, sagte McIntyre und schloß kurz die Augen. »Ich habe doch schon nein gesagt. Könnt ihr beide jetzt bitte wieder verschwinden?«
Langsam nahm Tinys Gesicht einen schmollenden Ausdruck an, seine Backen wurden rot gefleckt, als wäre er geschlagen worden. »Na gut«, sagte er
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