Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
Vom Netzwerk:
Geschäftsanzug eine stattliche Reife an, und Travers, ein Yale-Absolvent, was jedoch die meisten vergessen hatten, sah in der J.-Press- Hose und dem Button-down-Hemd seltsam kraftlos aus. Mehrere der Neger waren plötzlich wieder Neger statt ge- wöhnliche Menschen, wenn sie in ihren Hosen, die sich an den Knöcheln stark verjüngten und mit den weiten, langen Jacketts und den großen Windsor-Knoten auftra- ten, und auch ihnen schien es peinlich, auf die alte ver- traute Weise mit den weißen Männern zu reden. Aber Tinys Verwandlung war vermutlich am erstaunlichsten. Die Kleidung selbst war keine Überraschung – seine Fa- milie führte ein gutgehendes Restaurant in Queens, und er war angemessen gekleidet in einen teuren schwarzen Mantel und mit einem Seidenschal –, aber die Würde, die sie ihm verlieh, war bemerkenswert. Das dämliche Grin- sen war erloschen, das Lachen verstummt, die unge- schickten Bewegungen waren verschwunden. Die Augen unter der schmissigen Krempe seines Huts waren nicht mehr Tinys Augen, sondern blickten gelassen und gebie terisch. Die Wirkung wurde nicht einmal durch die feh- lenden Zähne verdorben, denn er öffnete den Mund nur, um kurze, nahezu barsche Weihnachtsgrüße zu mur- meln. Die anderen Patienten sahen mit einem gewissen scheuen Respekt zu diesem neuen Mann auf, zu diesem aufsehenerregenden Fremden, dessen harte Absätze auf den Marmorboden knallten, als er aus dem Gebäude schritt – und später, als er auf dem Weg nach Hause auf dem Gehsteig der Jamaica Avenue entlangging, machten ihm die Passanten instinktiv Platz.
     Tiny war sich der großartigen Figur, die er abgab, be- wußt, aber als er zu Hause ankam, dachte er nicht mehr darüber nach; im Kreis seiner Familie war sie die Realität. Niemand nannte ihn hier Tiny – er war Harold, ein sanft- mütiger Sohn, ein stiller Held für die vielen großäugigen Kinder, ein seltener und geehrter Besucher. Einmal, nach einem hervorragenden Essen, wurde ein kleines Mäd- chen feierlich zu Tinys Stuhl geführt, vor dem es schüch- tern stehenblieb, nicht wagte, ihm in die Augen zu blik- ken, und sich am Saum seines Partykleides festhielt. Seine Mutter drängte es zu sprechen. »Willst du Onkel Harold nicht erzählen, wen du jeden Abend in dein Gebet ein- schließt, Irene?«
     »Ja«, sagte das kleine Mädchen. »Ich sage zu Jesus, daß er Onkel Harold segnen und ihn bald wieder gesund ma- chen soll
     Onkel Harold lächelte und nahm die Hände des Mäd- chens. »Das ist prima, Irene«, sagte er heiser. »Aber weißt du, du sollst es ihm nicht sagen. Du sollst ihn darum bitten.«
     Zum ersten Mal blickte Irene ihm ins Gesicht. »Das meine ich«, sagte sie. »Ich bitte ihn darum.«
     Und Onkel Harold nahm sie in die Arme, brachte sein großes Gesicht über ihre Schulter, damit sie nicht sah, daß seine Augen in Tränen schwammen. »Du bist ein braves Mädchen«, flüsterte er. Es war eine Szene, die nie- mand in Haus Sieben geglaubt hätte.
     Er blieb Harold, bis der Aufenthalt vorüber war und er sich von seiner anhänglichen Familie verabschiedete, in den großen Mantel schlüpfte, den Hut aufsetzte und davonging. Er war Harold auf dem Weg zum Busbahnhof und auf der Fahrt zurück ins Krankenhaus, und die ande- ren Männer sahen ihn merkwürdig an und begrüßten ihn ein bißchen schüchtern, als er durch Station C stampfte. Er ging zu seinem Bett und legte mehrere Pakete darauf (in einem befand sich sein neuer Morgenmantel), dann ging er in den Waschraum, um sich umzuziehen. Das war der Anfang vom Ende, denn als er in seinem alten verblichenen Schlafanzug und den abgelatschten Pantof- feln wieder herauskam, war in seinen weicher werdenden Gesichtzügen nur noch eine Spur Bedeutsamkeit verblie- ben, und auch diese löste sich in den nächsten ein, zwei Stunden auf, während er auf dem Bett lag und Radio hörte. Später am Abend, als sich die meisten der anderen zurück- gekehrten Patienten für die Nacht eingerichtet hatten, setzte er sich auf und schaute sich auf die alte alberne Weise um. Er wartete geduldig auf einen Moment absolu- ter Stille, dann hob er die Gummiente hoch und ließ sie zehnmal im Rhythmus von »Share and haircut, two bits« quaken, während alle anderen stöhnten und fluchten. Tiny war zurück, bereit, ein neues Jahr zu beginnen.
     Jetzt, eine knappe Woche später, konnte er seine Wür- de wiedererlangen, wann immer er sie brauchte, indem er den Morgenmantel anzog, sich in Pose warf und kon zentriert an

Weitere Kostenlose Bücher