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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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könnten

    Das Rascheln gestärkter Wäsche und das dumpfe Auftre- ten von Gummisohlen ließen ihn aufblicken; eine Kran- kenschwester stand mit einer Flasche Alkohol zum Ein- reiben neben seinem Bett. »Wie war's, McIntyre?« sagte sie. »Sollen wir ihren Rücken einreiben?«
      »Nein, danke«, sagte er. »Heute abend nicht.«
      »Meine Güte.« Sie spähte kurz auf den Brief, den er mit der Hand ein wenig abschirmte. »Schreiben Sie immer noch Briefe? Jedesmal, wenn ich vorbeikomme, schrei- ben Sie einen Brief. Sie müssen vielen Leuten schreiben. Ich wünschte, ich hätte auch endlich die Zeit zum Briefe- schreiben.«
     »Ja«, sagte er. »Das ist eben der Unterschied. Ich habe jede Menge Zeit.«
     »Ja, aber daß Ihnen so viele Dinge zum Schreiben ein- fallen!« sagte sie. »Das ist mein Problem. Ich setze mich, und alles ist bereit, um einen Brief zu schreiben, und dann fällt mir überhaupt nichts ein, was ich schreiben könnte. Es ist schrecklich.«
     Er sah ihrem Hinterteil nach, als sie sich auf dem Gang entfernte. Dann las er die neue Seite, zerknüllte sie und ließ sie in die Abfalltüte fallen. Er schloß die Augen und massierte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrük- ken, während er versuchte, sich an den genauen Wortlaut der ersten Version zu erinnern. Schließlich schrieb er sie nieder, so gut er konnte:

    (S.3) reden.
    Baby Jean, Dein alter Paps ist vielleicht nicht mehr zu viel nütze, aber er weiß ein, zwei Dinge über das Leben und vor allem eine wichtige Sache, und die ist

    Aber von da an lag der Füller tot in seinen verkrampften Fingern. Es war, als hätten alle Buchstaben des Alphabets, alle Kombinationen der Buchstaben, die Wörter ergeben, alle unendlichen Möglichkeiten handgeschriebener Spra- che aufgehört zu existieren.
     Er schaute aus dem Fenster auf der Suche nach Hilfe, aber das Fenster war jetzt ein schwarzer Spiegel und re- flektierte die Lichter, die hellen Laken und Schlafanzüge der Station. Er zog seinen Morgenmantel und seine Pan- toffeln an und stellte sich vor die kalte Scheibe, stützte die Stirn auf und schirmte das Gesicht zu beiden Seiten mit den Händen ab. Jetzt sah er eine Kette von Straßen- lampen in der Ferne und jenseits davon, zwischen dem Schnee und dem Himmel, den Horizont aus schwarzen Bäumen. Auf der rechten Seite, knapp über dem Hori- zont, war der Himmel bedeckt von einem schwachen rosa Schimmern der Lichter von Brooklyn und New York, die Sicht war jedoch zum Teil durch einen großen dunklen Schatten im Vordergrund verstellt, die nur schwer erkennbare Ecke des Hauses der doppelseitig Gelähmten, eine ganze Welt entfernt.
     Als McIntyre sich vom Fenster abwandte, auf dem Glas einen schrumpfenden Geist aus Atem zurückließ und in das gelbe Licht blinzelte, tat er es mit einer seltsam scheuen, verjüngten und erleichterten Miene. Er ging zu seinem Bett, legte die Seiten seines Manuskripts ordent- lich aufeinander, riß sie in Hälften und Viertel und warf sie in die Abfalltüte. Dann nahm er seine Schachtel Ziga- retten und stellte sich neben Vernon Sloan, der durch sei- ne Lesebrille auf die Saturday Evening Post blinzelte.
     »Zigarette, Vernon?« fragte er.
     »Nein, danke, Mac. Wenn ich mehr als eine oder zwei am Tag rauche, muß ich nur husten.«
     »Okay«, sagte McIntyre und zündete sich selbst eine an. »Willst du Dame spielen?«
     »Nein, danke, Mac, jetzt nicht. Ich bin ein bißchen müde – ich glaube, ich will 'ne Weile lesen.«
     »Sind diese Woche gute Artikel drin, Vernon?«
     »Oh, ziemlich gute«, sagte er. »Ein paar ziemlich gute.« Dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen und ent- blößte fast alle seine makellosen Zähne. »Sag mal, was ist los mit dir, Mann? Geht's dir gut, oder was?«
     »Ach, nicht schlecht, Vernon«, sagte McIntyre und streck- te die dünnen Arme und das Rückgrat. »Nicht schlecht.«
     »Bist du endlich mit dem Schreiben fertig? Liegt's daran?«
     »Ja, vermutlich«, sagte er. »Mein Problem ist, mir fällt nichts ein, was ich schreiben könnte.«
     Er blickte über den Gang hinweg zu Tiny Kovacs' brei- tem Rücken, der zusammengesunken in der lila Fülle des neuen Morgenmantels dasaß, ging hinüber und legte die Hand auf eine der enormen Satinschultern. »Und?« frag- te er.
     Tiny wandte den Kopf, schaute ihn finster an und rea- gierte sofort feindselig. »Und was?«
     »Wo ist der Bart?«
     Tiny riß seinen Spind auf, griff nach dem Bart und warf ihn McIntyre in die Hände.

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