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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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»Hier«, sagte er. »Du willst ihn? Nimm ihn.«
     McIntyre hielt ihn an die Ohren und zog das Band über den Kopf. »Das Band sollte ein bißchen enger sein«, sagte er. »Und wie sieht's jetzt aus? Schaut wahrscheinlich bes- ser aus, wenn ich die Zähne rausnehme.«
     Aber Tiny hörte ihm nicht zu. Er kramte in seinem Spind nach den Bandagen. »Hier«, sagte er. »Nimm die auch. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Wenn du die Sache durchziehen willst, such dir jemand anders.«
     In diesem Augenblick kam Jones übers ganze Gesicht lächelnd dahergelatscht. »He, machst du doch mit, Mac? Hast du dir's anders überlegt?«
     »Jones, red mit diesem Hurensohn«, sagte McIntyre durch den wackelnden Bart. »Er will nicht kooperieren.«
     »Ach, Mensch, Tiny«, bat Jones. »Die ganze Sache hängt an dir. Es war deine Idee.«
     »Ich hab's doch schon gesagt«, sagte Tiny. »Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Wenn ihr die Sache durchziehen wollt, sucht euch einen anderen Idioten.«
     Nachdem um zehn Uhr das Licht ausgeschaltet worden
    war, machte sich niemand mehr die Mühe, den Whiskey zu verstecken. Männer, die den Abend über heimlich im Waschraum genippt hatten, tranken jetzt in still vergnüg- ten Gruppen auf den Stationen mit dem inoffiziellen, ein- mal im Jahr erteilten Segen der Schwester vom Dienst. Niemandem fiel es auf, als kurz vor Mitternacht drei Männer von Station C zuerst in die Wäschekammer schlichen, um ein Laken und ein Handtuch zu holen, anschließend in die Küche, um einen Besenstiel aufzu- treiben, und dann durch das ganze Gebäude gingen und im Waschraum von Station A verschwanden.
     Im letzten Moment sorgte der Bart für Aufregung: Er verbarg so viel von McIntyres Gesicht, daß die Wirkung der fehlenden Zähne verlorenging. Jones löste das Pro- blem, indem er alles abschnitt bis auf einen Kinnbart, den er mit Tesafilm befestigte. »Da«, sagte er. »so geht's. Das ist perfekt. Jetzt roll die Schlafanzugbeine hoch, Mac, damit unter dem Laken nur deine nackten Beine zu sehen sind. Verstanden? Wo ist der Besenstiel?«
     »Jones, es geht nicht«, rief Tiny dramatisch. Abgesehen von einem Paar weißer Socken stand er nackt da und ver- suchte, das um seine Lenden gewickelte Handtuch mit einer Nadel festzustecken. »Das Scheißding bleibt nicht oben! «
     Jones befestigte rasch das Handtuch, und schließlich waren sie fertig. Nervös schluckten sie den Rest von Jones' Whiskey und warfen die leere Flasche in einen Wäschekorb; dann schlichen sie hinaus und versteckten sich in der Dunkelheit vor dem Eingang zu Station A.
     »Fertig?« flüsterte Jones. »Okay ... Jetzt.« Er schaltete das Deckenlicht ein, und dreißig verblüffte Gesichter blinzelten im grellen Lichtschein.
     Zuerst kam 1950, eine ausgezehrte Gestalt, die sich zit- ternd an einen Stab klammerte, lahm und altersschwach; dahinter, grinsend und muskelprotzend, tanzte das rie- sengroße Baby mit der Windel, das das neue Jahr dar- stellte. Ein, zwei Augenblicke herrschte abgesehen vom unregelmäßigen Klopfen des Stabes des alten Mannes Stille, und dann setzten das Gelächter und die höhni- schen Rufe ein.
     »Weg mit dem Alten!« schrie das Baby über den Lärm hinweg und machte eine umständliche Posse daraus, den alten Mann zu vertreiben und in den Hintern zu treten, woraufhin der alte Mann taumelte und sich eine Hinter- backe rieb, während sie den Gang entlanggingen. »Weg mit dem Alten! Her mit dem Neuen!«
     Jones lief voraus, um das Licht auf Station B einzu- schalten, wo die Ovationen noch lauter ausfielen. Schwe- stern drängten sich ratlos in den Türen, um zuzusehen, runzelten die Stirn oder kicherten hinter ihren sterilen Masken, während die Show unter Gespött, Buhrufen und Pfiffen weiterzog.

    »Weg mit dem Alten! Her mit dem Neuen!«

    In einem der Einzelzimmer blinzelte ein sterbender Mann durch das Fenster seines Sauerstoffzelts, als die Tür aufge- rissen und das Licht eingeschaltet wurde. Er schaute ver- wirrt zu den wilden zahnlosen Clowns, die am Fuß seines Bettes herumtollten; schließlich begriff er und bedachte sie mit einem gelben Lächeln, und sie gingen weiter ins nächste Sterbezimmer und ins übernächste, bis sie end- lich Station C erreichten, wo ihre Freunde lachend im Gang standen.
    Es war kaum Zeit, um sich einen neuen Drink einzu
    schenken, bevor alle Radios gleichzeitig plärrten und Guy Lombardos Band »Auld Lang Syne« zu schmettern begann; dann vereinten sich alle grölenden

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