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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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verletz- ten, ängstlichen kleinen jungen wurde. Dann lief Blut aus der Nase des kleinen Jungen und tropfte auf das Nylon- hemd, das er zu Weihnachten bekommen hatte, und McIntyre schlug ihn noch einmal, und da schrie seine Frau auf.
     Ein paar Stunden später war er wieder in Haus Sieben und hatte nichts zu tun. Die ganze Woche aß er wenig, sprach mit niemandem außer mit Vernon Sloan und ver- brachte viel Zeit damit, den Brief an seine Tochter zu schreiben, der am Silvesternachmittag immer noch nicht fertig war.
     Nach vielen mißglückten Anfängen, die zwischen den benutzten Taschentüchern in der an seinem Bett hängen- den Abfalltüte gelandet waren, hatte er mittlerweile fol- gendes geschrieben:

    Jean, Liebes,
     ich glaube, ich habe mich ziemlich aufgeregt und einen Mordsärger veranstaltet, als ich zu Hause war. Baby, das ist nur, weil ich so lange weg war und es schwer für mich ist zu begreifen, daß Du eine erwachsene Frau bist, und deswegen bin ich neulich durchgedreht. Aber, Jean, seit- dem ich zurück bin, habe ich nachgedacht, und ich möchte Dir ein paar Zeilen schreiben.
     Das Wichtigste ist, mach Dir keine Sorgen. Denk dran, Du bist nicht die erste Frau, die einen Fehler gemacht hat und

    (S.2)
    deswegen in Schwierigkeiten ist. Deine Mama ist des- wegen ganz durcheinander, aber laß nicht zu, daß sie Dich fertigmacht. Jean, vielleicht schaut es auch so aus, als ob du und ich einander nicht mehr so gut kennen, aber das stimmt nicht. Erinnerst Du Dich noch, wie ich zum ersten Mal von der Armee nach Hause kam und Du warst ungefähr zwölf, und manchmal sind wir im Pro- spect Park spazierengegangen und haben geredet. Ich wünschte, ich könnte jetzt so mit Dir

    (S.3) reden.
    Dein alter Paps ist vielleicht nicht mehr zu viel nütze, aber er weiß ein, zwei Dinge über das Leben und vor allem eine wichtige Sache, und die ist

    So weit war der Brief fortgeschritten.
     Jetzt, da Tinys Lachen verstummt war, war es unnatür- lich still auf der Station. Das alte Jahr verblaßte vor den Fenstern nach Westen zu einem dürftigen gelben Sonnen- untergang; dann wurde es dunkel, die Lichter wurden eingeschaltet, und maskierte Pfleger in Dienstkleidung rollten in wackligen Wagen auf Gummirädern die Tabletts mit dem Abendessen herein. Einer von ihnen, ein hagerer Mann mit strahlenden Augen namens Carl, spulte seine tägliche Routine ab.
     »He, habt ihr von dem Mann gehört, der selbst dran glauben mußte?« fragte er und blieb mitten auf dem Gang mit einer dampfenden Kanne Kaffee stehen.
     »Schenk einfach Kaffee ein, Carl«, sagte jemand.
     Carl goß Kaffee in ein paar Tassen und wollte über den Gang, um auch auf der anderen Seite auszuschenken, blieb jedoch erneut stehen, und seine Augen quollen über dem Rand der sterilen Maske hervor. »Nein, hört mal – habt ihr von dem Mann gehört, der selbst dran glauben mußte? Das ist ein neuer.« Er blickte zu Tiny, der normalerweise mehr als willens war, mitzuspielen, aber Tiny butterte schlechtgelaunt eine Scheibe Brot, seine Backen bebten bei jeder Bewegung des Messers. »Wie auch immer«, sagte Carl schließlich, »dieser Mann sagt zu diesem Kind: ›He, Kind, stimmt es, daß heute Dienstag ist?‹ Das Kind sagt: ›Ja.‹ Versteht ihr? Da mußte der Mann selbst dran glauben!« Er schüttelte sich vor Lachen und schlug sich auf den Schenkel. Jones stöhnte anerken- nend; alle anderen aßen schweigend.
     Nach dem Essen, nachdem die Tabletts wieder abgetra- gen waren, zerriß McIntyre die alte Seite 3 und warf sie in die Abfalltüte. Er schüttelte seine Kissen auf, wischte ein paar Krümel vom Bett und schrieb:

    (S.3) reden.
    Jean, bitte schreib mir und sag mir den Namen des Jun- gen. Ich verspreche, ich
    Aber er warf auch diese Seite weg und saß lange da, ohne ein Wort zu schreiben, rauchte eine Zigarette und be- mühte sich gewissenhaft wie immer, nicht zu inhalieren. Schließlich nahm er erneut den Füller zur Hand und säu- berte die Feder sehr sorgfältig mit einem Taschentuch. Dann begann er eine neue Seite:

    (S.3) reden.
    Baby, ich habe eine Idee. Wie Du weißt, warte ich auf die Operation auf der linken Seite im Februar, aber wenn alles gutgeht, kann ich mich vielleicht am 1. April hier verabschieden. Natürlich werde ich nicht entlassen wer- den, aber ich kann's ja riskieren wie 1947 und hoffen, daß ich diesmal mehr Glück habe. Dann könnten wir aufs Land ziehen, nur Du und ich, und ich könnte einen Teil- zeitjob annehmen, und wir

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