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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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sie und gab ihm einen Kuß, der nach Schlaf und abgestandenem Parfum roch. Sie öffnete wort- los ihre Geschenke und lag dann lange Zeit da, ein Bein über die Armlehne eines tiefen Polstersessels geworfen, ihr Fuß wippte auf und ab, ihre Finger drückten an einem Pickel auf ihrem Kinn herum.
     McIntyre konnte den Blick nicht von ihr wenden. Es lag nicht nur daran, daß sie eine Frau war – der Typ in sich gekehrter, schief lächelnder Frau, der ihn in seiner Jugend mit unerträglicher Schüchternheit und Verlangen erfüllt hatte –, es war etwas Verwirren der es als das.
     »Was guckst du so, Paps?« fragte sie, lächelte und run- zelte gleichzeitig die Stirn. »Die ganze Zeit guckst du mich an.«
     Er merkte, daß er rot wurde. »Hübsche Mädchen schaue ich immer gern an. Ist das so schlimm?«
     »Natürlich nicht.« Sie begann, konzentriert an einem abgebrochenen Fingernagel zu zupfen, blickte stirnrun- zelnd auf ihre Hände, so daß ihre langen Wimpern sich anmutig geschwungen vor ihren Wangen abhoben. »Es ist nur – du weißt schon. Wenn einen jemand die ganze Zeit anschaut, wird man nervös, das ist alles.«
     »Liebes, hör mal.« McIntyre beugte sich vor, die Ell- bogen auf seine knochigen Knie gestützt. »Kann ich dich was fragen? Was hat es damit auf sich, daß du immer ner- vös bist? Seitdem ich zu Hause bin, höre ich nichts ande- res. ›Jean ist nervös. Jean ist sehr nervös.‹ Willst du mir eine Frage beantworten? Weswegen bist du so nervös?«
     »Wegen nichts«, sagte sie. »Ich weiß nicht, Paps. Wegen nichts.«
     »Der Grund, warum ich frage« – er versuchte mit tiefer, sanfter Stimme zu sprechen, so wie sie, dessen war er sich fast sicher, vor langer Zeit geklungen hatte, aber jetzt klang sie kratzend, nörgelnd und kurzatmig –, »der Grund, warum ich frage, ist, wenn dir was Sorgen macht, solltest du es dann nicht deinem Paps erzählen?«
     Ihr Fingernagel riß ab bis tief ins Fleisch, woraufhin sie heftig die Hand schüttelte und den Finger mit einem lei- sen Schmerzenslaut in den Mund steckte, und plötzlich war sie auf den Beinen, mit rotem Gesicht und weinend. »Paps, kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Kannst du mich bitte einfach in Ruhe lassen?« Sie lief aus dem Zim- mer, in den ersten Stock und knallte die Tür zu.
     McIntyre wollte ihr nachlaufen, statt dessen stand er schwankend da und starrte finster Frau und Sohn an, die an entgegengesetzten Seiten des Raums den Teppich anstarrten.
     »Was ist eigentlich los mit ihr?« fragte er. »Hm? Was zum Teufel geht hier vor?« Aber sie schwiegen wie zwei schuldbewußte Kinder. »Kommt schon«, sagte er. Sein Kopf machte mit jedem Luftholen seiner schmächtigen Brust eine kleine unfreiwillige Bewegung. »Raus mit der Sprache, verdammt noch mal, redet schon.«
     Seine Frau sank mit einem leisen rührseligen Stöhnen auf die Kissen des Sofas, weinte, ihre Gesichtszüge ent- glitten ihr. »Na gut«, sagte sie. »Na gut, du willst es ja nicht anders. Wir tun alle unser Bestes, damit du ein schönes Weihnachten hast, aber wenn du nach Hause kommst und herumschnüffelst und mit deinen Fragen alle in den Wahnsinn treibst, na gut – es ist schließlich dein Begräbnis. Sie ist im vierten Monat schwanger – na, bist du jetzt zufrieden? Wirst du jetzt bitte aufhören, uns auf die Nerven zu gehen?«
     McIntyre setzte sich in einen Sessel, auf dem rascheln- des Weihnachtspapier lag, sein Kopf bewegte sich noch immer mit jedem Atemzug.
     »Wer war es?« sagte er schließlich. »Wer ist der Junge?«
     »Frag sie«, sagte seine Frau. »Na los, frag sie, und du
    wirst schon sehen. Sie wird es dir nicht sagen. Sie sagt es niemand – das ist ja das Problem. Sie hätte nicht mal was von dem Baby gesagt, wenn ich es nicht selbst heraus- gefunden hätte, und jetzt sagt sie nicht einmal ihrer eige- nen Mutter, wer der Junge ist. Lieber bricht sie ihrer Mutter das Herz – ja, das tut sie, und das ihres Bruders auch.«
     Dann hörte er es wieder, das leise Schniefen auf der anderen Seite des Zimmers. Joseph stand da, grinste blöd und drückte seine Zigarette aus. Seine Unterlippe beweg- te sich ein wenig, und er sagte: «Vielleicht kennt sie den Namen des Kerls gar nicht.«
     McIntyre stand ganz langsam aus dem raschelnden Papier auf, ging zu seinem Sohn und schlug ihn mit der flachen Hand hart ins Gesicht, so daß sein langes Haar von seinem Schädel sprang und über seine Ohren fiel, sein Gesicht zusammenzuckte und zu dem eines

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