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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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Jacqueline versucht vergeblich, auf sich aufmerksam zu machen; sie will zahlen. Eine mittlere Managerin, gekleidet wie ein Callgirl, wankt vorbei und erwischt Jacqueline fast mit ihrem schlenkernden Arm; johlend macht sie irgendeine Pantomime, die nur die Leute an ihrem Tisch verstehen, und poltert durch die Tür zur Damentoilette.
    Als die Rechnung auf dem schmucken Silbertablett endlich kommt, hat Jacqueline im Geiste bereits den ersten Absatz der vernichtenden Kritik formuliert, die nächste Woche im Evening Standard erscheinen wird, eine Kritik, die dem Chico’s Unrecht tun wird, das einfach zur falschen Zeit auf Jacquelines Agenda stand. Erscheinen wird sie trotzdem, schwarz auf weiß.
    Als er seine Wohnung durch die Augen seines Besuchs betrachtet, fallen Xavier überall kleine Schmuddelecken auf. Kurz nach dem Einzug hatte er es mit der Hausarbeit ziemlich genau genommen, das gehörte zu dem neuen Leben voll positiver Energie, das er durch seine Übersiedlung nach England beginnen wollte, aber diese Entschlossenheit ließ nach. Einige Tassen haben schon seit Monaten kein Spülwasser mehr gesehen. In der Küche hängen Spinnweben in den Ecken, und der Mülleimer müsste auch mal geleert werden; er verbreitet einen leicht ranzigen Geruch. Und dann sind da noch die Schränke mit ihren Lebensmittelbewohnern, von denen mindestens die Hälfte längst in Rente ist. Xavier weiß, dass auf dem Badezimmerboden ein zerknautschtes Handtuch liegt und die Toilette allenfalls passabel aussieht. Selbst das Wohnzimmer, in das sie sich jetzt mit einer Flasche Wein setzen, ist voller Staub, und überall liegt aufgerissene Post herum, um die er sich kümmern muss. Das Sofa ist seit Jahren durchgesessen.
    Systematisch wie zwei Menschen, die wissen, dass Sex im Bereich des Möglichen liegt, arbeiten sie sich durch die Flasche Wein. Gemma plündert ihren begrenzten Vorrat an Gesprächseröffnungen, und die beiden bemühen sich tapfer, die Bälle in der Luft zu halten, aber als von unten ein zorniger Schrei von Jamie kommt, der auf seinem Ärmchen eingeschlafen und plötzlich aufgewacht ist und denkt, es wäre verschwunden, sind beide dankbar für die Ablenkung. Sekunden darauf hören sie Mel herumschlurfen.
    Xavier verzieht das Gesicht.
    »Magst du Kinder nicht?«, fragt Gemma.
    »Was?«
    »Ob du keine Kinder magst?«
    Die Frage packt Xavier an der Gurgel und hält ihn ein paar Sekunden so fest. Als wäre er bei ihnen im Zimmer, sieht Xavier den drei Wochen alten Michael vor sich, das Kind von Russell und Bec, in einem winzigen Strampler, in dem er wie ein Junges von irgendeinem Waldtier aussah.
    »Äh …«
    »Na ja, du hast gerade irgendwie ausgesehen, als würdest du denken, oh mein Gott, dieses nervige Blag.«
    »Ach so.« Xavier fasst sich wieder, und die Beinahe-Vision verblasst. »Nein, nein, ich … mir tut die Frau da unten bloß ein bisschen leid. Sie ist alleinerziehend, und der Kleine ist ziemlich quirlig. Aber doch, ja, ich mag Kinder.«
    »Es muss ein Albtraum sein als alleinerziehende Mutter.«
    Xavier stimmt ihr zu.
    »Also, ich könnte mir das echt nicht vorstellen«, fügt Gemma hinzu. Klingt, als sollte ich mich darüber freuen, denkt Xavier.
    Als sie schließlich ins Schlafzimmer gehen, zieht Gemma Xavier mit geübter Leichtigkeit aus und lässt sich dann von ihm ausziehen. Xavier fühlt dasselbe wie im Kino, bei ihrer ersten Berührung: eine Art widerstrebende Erregung. Sie geht energisch zur Sache, beißt ihn in die Schulter und zerkratzt ihm den Rücken, und im Sog der Ereignisse beginnt er es zu genießen. Für eine Weile vergisst er sich selbst und alles ringsherum und ist einfach nur jemand, der mit jemand anderem schläft, genau wie Hunderte Menschen in ganz London in diesem Moment – wie Jacqueline Carstairs’ Freundin Roz, die von der Verabredung zum Essen abgesprungen war, um mit einem Mann ins Bett zu gehen, den sie letzte Woche im Salsa-Kurs kennengelernt hat, oder die Tochter des indischen Ladenbesitzers und ihr Freund, die kurz davor sind, sich zu verloben. All diesen Menschen kommt es für ein paar Minuten vor, als gäbe es nichts anders auf der Welt, das zu tun sich lohnen würde. Als es vorbei ist, liegen Xavier und Gemma noch eine Weile still nebeneinander und lauschen diversen Geräuschen, dem Rattern eines Lkws draußen auf der Hauptstraße und einer hitzigen Debatte in der Wohnung über ihnen, die selbst der voll aufgedrehte Fernseher nicht übertönen kann.
    Xavier geht ins Bad, und
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