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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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dass ihr Sohn mit einer aufgeschlitzten Wange nach Hause kommt? Was für eine Mutter hat auf dem Kaminsims einen Preis der Writers Guild stehen, mit einem Pressezitat, in dem ihr ebenso luzides Denken wie Schreiben gepriesen wird, weiß aber nicht, was sie zu ihrem Sohn sagen soll, der niedergeschlagen am Küchentisch sitzt und in seinen Erbsen herumstochert? Und stürzt jetzt davon, um ein Restaurant in Soho zu testen – das Chico’s heißt, Chico’s, in Gottes Namen, sie hasst es schon jetzt –, während sich ihr Sohn in seinem Zimmer verbarrikadiert? Und was für eine Mutter hat keine Ahnung, was ihrem Sohn durch den Kopf geht?
    Die ätzende Restaurantkritik ist gewissermaßen schon geschrieben, so sehr sich der Küchenchef im Moment auch mit einer Grillpoularde an Marktgemüse und einer kräftigen Jus abmühen mag. Sie war bereits geschrieben, als es Xavier nicht gelang, Frankie davor zu beschützen, im Schnee zusammengeschlagen zu werden.
    Gemmas Zähne sind sehr weiß, wie die Keramik in einem Ausstellungsbad. Sie ist hübsch, denkt Xavier, aber so, wie die Moderatorin einer Reisesendung hübsch ist: gesunder Teint, symmetrisches Lächeln, steril. Sie ist für ein Jahr in London und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Sie sagt oft ›irgendwie‹.
    »Und, macht das Spaß, Filmkritiken zu schreiben?«
    »Ja, ich mach das nur einmal die Woche«, sagt Xavier, »so nebenbei, neben den, äh, anderen Sachen.«
    »Was machst du noch mal?«
    »Ich arbeite bei einem Radiosender.«
    »Cool! Und wie lange schon?«
    »Ich bin da so reingerutscht, als ich hier rüber gekommen bin.«
    »Und was hast du in Australien gemacht?«
    Xavier blickt auf seine Schuhe.
    »Ich, also, ich hab – alles Mögliche halt. Und du? Ich meine, wenn du wieder nach Australien gehst? Was hast du dann vor?«
    »Ach, keine Ahnung, wahrscheinlich such ich mir erstmal irgendwas, in einer Bar oder so, und dann mal sehen, was sich ergibt. Also, mein Traum wäre ja, Modedesignerin zu werden, aber ich glaub irgendwie nicht, dass daraus was wird.«
    Sie lacht, als wäre die Aussichtslosigkeit ihrer Träume wenig Grund für Kummer. Xavier spürt, wie ihn ein unbehagliches Gefühl durchzuckt. Sie passen überhaupt nicht zueinander. Für einen Augenblick würde er sich am liebsten unter irgendeinem Vorwand absetzen.
    »Aber echt cool, der Laden hier«, sagt Gemma und sieht sich – beeindruckt und vorsichtig wie jemand, der auf einem ausländischen Marktplatz auf überteuerte Teppiche schaut – in der kleinen Kinobar mit den gerahmten Filmplakaten aus aller Welt um. Vor Xaviers innerem Auge flackert unwillkürlich das Zodiac Cinema in Melbourne auf, mit seinem kolonialen Prunk, den schweren roten Samtvorhängen vor der Leinwand, den beiden großen halbrunden Balkonen über dem Parkett und dem fanatischen Filmvorführer, der manchmal aus seiner Kabine kam und einen spontanen Vortrag über den Film hielt, bevor er begann.
    Heute Abend sitzen Xavier und Gemma zusammen mit sehr wenigen Leuten im Kino. Als das Licht ausgeht, legt Gemma ihre Hand auf die von Xavier. Unwillkürlich spürt er ein Flattern, als wäre er eine Flagge, die von einer Brise erfasst wird, und ärgert sich fast, wie leicht das geht.
    »Keine Trailer!«, flüstert sie überrascht, als auf der Leinwand würdevoll die Altersfreigabe des British Board of Film Classification erscheint, jener traditionelle Auftakt, der in ein paar Jahrzehnten ebenso nostalgisch, ebenso antiquiert wirken wird wie heute die Zwischentitel eines Stummfilms.
    Der Film heißt Der Mann, der nicht existierte und handelt von einem Mann, der eines Tages feststellen muss, dass Freunde und Familie sich verhalten, als wäre er tot. Es ist eine politische Metapher, kann sich Xavier halb zusammenreimen, irgendwie geht es um die Frage, wie sich ein Mensch in einer Gesellschaft definiert, in der Individualität nicht erwünscht ist.
    Ungefähr in der Mitte, als er gerade ein wenig in den Film hineingefunden hat, beginnt Gemma, unpassende Kommentare zu murmeln.
    »Mann, das ist ja voll deprimäßig! Ich denk, das ist eine Komödie!« Und dann, kurz darauf: »Was sollte denn jetzt die Szene?«
    Wieder spürt Xavier in seinem Magen das unangenehme Gewicht der Tatsache, dass sie einfach nicht zueinanderpassen. Es ist nicht ihre Schuld, dass er es absolut nicht haben kann, wenn während eines Films geredet wird. Sie kann nicht wissen, dass er einmal im Zodiac, nach langem »Psst!« und »Schscht!«, aufgestanden war
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