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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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und ein Pärchen beschimpft hatte, das einander am laufenden Band mit ironischen Kommentaren zu beeindrucken versucht hatte.
    »Warum geht ihr nicht einfach ein Bier trinken? Das hier ist ein Kino, verdammt noch mal!«, hatte er gewettert.
    Von den anderen Zuschauern plätscherte Applaus und Gelächter zu ihm herüber.
    Das Pärchen ging dann tatsächlich vor Ende des Films, und danach bildeten die drei anderen eine Kette um Xavier, für den Fall, dass die Ruhestörer irgendwo mit Verstärkung auf ihn warteten. Aber sie trafen nur den Filmvorführer, der Xavier die Hand schüttelte und ihm für den Rest des Jahres Freikarten schenkte.
    Das war vor acht Jahren; heute sagt Xavier niemandem mehr die Meinung, schon gar nicht dem Mädchen, mit dem er sich hier verabredet hat, auch wenn ihm das jetzt wie eine Schnapsidee vorkommt. Kaum dass der Abspann begonnen hat, springt Gemma auf und steckt ihr Handy ein, mit dem sie die letzten zwanzig Minuten herumgespielt hat.
    »Und, was schreibst du jetzt in deiner Kritik?«, fragt sie, als die beiden in die schneidende Kälte hinaustreten und die Wardour Street entlangzustapfen beginnen, wo Betrunkene an Geldautomaten Schlange stehen oder mit korbdeckelgroßen, fleischgefüllten Teigtaschen, die in weißen Papiertüten schwitzen, aus Kebab-Läden heraustorkeln und sich auf die Motorhauben von Taxis werfen wie Ertrinkende auf Rettungsboote.
    »Na ja«, sagt Xavier, »die Idee fand ich ganz clever, aber die Umsetzung war vielleicht ein bisschen ungelenk.«
    »Ein bisschen wie?«
    »Ein bisschen, äh …«
    »Es war deprimierend «, sagt Gemma.
    An der Kreuzung zur Oxford Street stützen zwei Männer ein Mädchen, das auf seine Schuhe erbricht.
    »Zu dir?«, fragt Gemma.
    Nicht weit entfernt neigt sich für Jacqueline Carstairs ein unbefriedigender Abend bei Chico’s dem Ende entgegen. Natürlich hätte es kaum ein befriedigender Abend werden können, da der Angriff auf ihren Sohn eine wichtigere Komponente war als das Essen, der Service, das Ambiente oder sonst irgendein Aspekt des Restaurantbesuchs. Das Lokal selbst bekleckerte sich aber auch nicht gerade mit Ruhm. Als sie ankam, musste sie zehn Minuten lang im engen Eingangsbereich warten und sich von Kellnern mit Sangria-Krügen anrempeln lassen, weil der Manager ihre Reservierung nicht finden konnte, und als sie endlich saß, feierte direkt am Nebentisch eine lärmende Horde von Geschäftsleuten einen Geburtstag. Jacqueline fühlte sich befangen so ganz allein und verfluchte ihre Freundin Roz für ihren Absprung. Außerdem musste sie eine halbe Ewigkeit auf die Paprikaschoten mit Schafskäsefüllung und danach auf die Poularde warten, wobei das Essen selbst zwar nicht schlecht schmeckte, aber eher Hausmannskost als Haute Cuisine war.
    Als sie an einem schwarzen Kaffee nippt und im Kopf die ersten Sätze ihrer Kritik entwirft – Der Wirbel um Chico’s macht deutlich, wie schlecht es in der Metropole um spanische Küche von internationalem Format bestellt ist  –, wird ihr jedoch klar, dass deren Gegenstand nicht das Essen oder das Interieur bei Chico’s ist, sondern ihr eigenes Innenleben. Sie blickt durch den Raum, der mehr und mehr einem Papageienhaus gleicht, und plötzlich widert sie alles an – die feisten Geschäftsleute, die ihre Paella verdauen, das Besteckklappern, die schlecht gekleideten Frauen, die über Dessert-Cocktails aufkreischen, das anonyme Plastikgeräusch, mit dem Kreditkarten durch den Leseschlitz gezogen und ihre Inhaber um unsichtbares Geld erleichtert werden, die übersättigten Körper inmitten von Speisen und Getränken und die Kellner, die aufgeblähten Männern mit einer müden Kopfneigung den Weg zur Toilette weisen. Sie denkt an Frankies aufgeschlitztes Gesicht und dann, mit einem fast aggressiven Widerwillen, an die idiotischen Schwurbelsätze, von denen es in einigen ihrer letzten Kritiken gewimmelt hatte.
    Ein solches Restaurant steht und fällt mit seinen Meeresfrüchten.
    Eine exklusive Location direkt am Puls von Notting Hill.
    Das reizlose Lokal gerät durch seine pseudo-klassischen Ambitionen leider vollends zum Fiasko.
    Wer interessiert sich denn schon für Essen, Herrgott noch mal? Wie kann man sie bloß solchen Unsinn schreiben lassen? Als wäre es etwas Weltbewegendes, ob ein Stück Seebrasse exakt die richtige Anzahl von Minuten gegart wurde, als wäre die Qualität der Gemälde in irgendeiner Pinte in Shoreditch keine alberne Geschmackssache, sondern eine Frage der Moral.
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