Elf Leben
Viertagebart. Xavier sieht irgendwie immer aus wie das blühende Leben, ein Segen, der ihm von seinem Vorstadtleben an der frischen australischen Luft geblieben ist. Er hat lange, feingliedrige Finger, wie ein Pianist, was er als Schüler tatsächlich einmal war; er nahm zusammen mit Russell Klavierstunden. Aber als er merkte, dass Russell durch den Vergleich mit ihm unglücklich wurde, hängte er das Klavierspielen still und leise an den Nagel. »Ich schaff es kaum, mich richtig auf diesen beknackten Hocker zu setzen«, hatte Russell geklagt, »geschweige denn, eine Tonleiter zu spielen.«
Mel lächelt ihm vom Fenster aus zu, als er geht, und winkt mit dem pummeligen Ärmchen des momentan friedlichen Jamie. Xavier geht fünfzehn Minuten bis zur U-Bahn und fährt mit der Northern Line hinunter zum Leicester Square.
Ungefähr zur selben Zeit verlässt Jacqueline Carstairs, die Journalistin, ihr Haus in Hampstead und macht sich auf den Weg in ein Restaurant, über das sie eine Kritik schreiben soll. An der Straßenecke wartet sie auf den Bus. Sie war zu diesem Essen eigentlich mit einer Freundin verabredet – ihr Mann ist auf einem Golfwochenende, und um ihren Sohn Frankie kümmert sich eine Babysitterin, auch wenn er diesen Begriff mit seinen dreizehn Jahren hasst –, aber die hat vor einer Stunde abgesagt, per SMS . Jacqueline steht an der Bushaltestelle, an einem Abend, der die ganze Zeit mit Regen droht, ohne seine Drohung wahr zu machen, und wünscht sich, sie hätte sich entweder für mildes oder eiskaltes Wetter angezogen: Sie hat versucht, mit einem Kleid und einem Pullover – denkbar schlechte Partner – auf Nummer sicher zu gehen, und das ganze Outfit fühlt sich überzogen, zu warm und unpassend an. Der Akku ihres Handys ist schwach, sie hat vergessen, ihn vor dem Gehen zu laden, und auch das ärgert sie. Aber der wahre Grund ihrer schlechten Laune, die ihr im Nacken hockt wie ein übereifriger Übersetzer, der jeden Gedanken in ein Hätte-ich-doch verwandelt, ist das, was Frankie letzte Woche zugestoßen ist.
Sie war zu Hause und recherchierte gerade einen Artikel, als der Anruf des stellvertretenden Direktors kam.
»Sind Sie die Mutter von Frankie Carstairs?«
Für eine Sekunde spürte sie Nadelstiche der Angst auf jedem freien Stück Haut.
»Ja. Was ist los? Ist was passiert?«
»Also, äh … er wurde Opfer einer … einer kleinen Schlägerei, das ist alles. Ein paar Jungs haben ihm im Schnee eine Abreibung verpasst. Zwar außerhalb des Schulgeländes, aber wir kümmern uns trotzdem –«
»Was meinen Sie damit, ›eine Abreibung verpasst‹?«
»Er wurde ein wenig herumgeschubst und eingeseift, und – na ja, wir haben ihn in die Notaufnahme gebracht.«
»In die Notaufnahme!« Da waren sie wieder, die Nadelstiche. »Aber es ist doch alles in Ordnung mit ihm?« Sie ärgerte sich darüber, einen im Grunde Wildfremden so um Beruhigung bitten zu müssen.
»Es geht ihm soweit gut. Wie gesagt, wir kümmern uns hier um die Angelegenheit.«
»Das möchte ich auch hoffen«, konnte sie bloß bockig erwidern, »ansonsten …«
»Ich versichere Ihnen«, sagte der stellvertretende Direktor zuversichtlich, der die Reaktion vorhergesehen und sich eine Antwort zurechtgelegt hatte, »wir nehmen die Sache sehr ernst.«
Als sie ins Krankenhaus kam, wurde Frankie gerade genäht, der erste von sechs Stichen.
»Ist nicht so schlimm, das macht nichts«, murmelte er. »Das macht nichts«, murmelte er auf dem Rücksitz des Volvo, wo er wie ein Häufchen Elend neben einem riesigen Autoaatlas saß und aus dem Fenster starrte.
»Du weißt doch, dass du sofort jemandem Bescheid sagen musst, wenn du geärgert wirst …«
»Ist nicht so schlimm, Mum.«
Aber es war sehr wohl schlimm. Am Abend schloss er sich über eine Stunde lang im Badezimmer ein, kam nicht zum Essen herunter und tat, als wäre er krank, um den Rest der Woche nicht zur Schule zu müssen. Jacqueline schämte sich mit jedem Tag mehr für sich selbst. Hat sie an jenem verschneiten Abend nicht gehofft, dass die Schule nicht schließen würde, damit sie ein paar zusätzliche Stunden Ruhe hätte – obwohl Frankie sich mit dreizehn problemlos allein beschäftigen konnte? Und hat sie in letzter Zeit nicht sowieso mehr als den Löwenanteil der elterlichen Pflichten an ihren Mann abgegeben, weil sie ja ach so viel Arbeit hat? Was für eine Mutter ist so versessen darauf, zweitausendfünfhundert Wörter über chilenischen Wein zu schreiben,
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