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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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als er zurückkommt, sitzt Gemma zu seinem Erstaunen halb angezogen auf der Bettkante.
    Sie zieht sich ihr Oberteil über den Kopf und sieht Xavier an – kühl, aber ohne Bitterkeit.
    »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«
    »Was? Wieso das denn?«
    Sie zuckt mit den Schultern.
    »Weißt du …«
    »Hab ich irgendwas falsch gemacht? Tut mir leid, ich bin manchmal ein bisschen …«
    Gemma streckt mit einer traurigen Geste die Hände aus.
    »Nein, nein, es war toll, aber na ja.« Sie schüttelt energisch den Kopf, und Xavier weiß nicht genau, ob sie damit irgendetwas ausdrücken oder nur ihre Frisur wieder in Form bringen will. »Wir haben halt nicht gerade viel gemeinsam.«
    »Na ja, vielleicht nicht, aber …«
    »Ich fand den Abend echt schön, aber – wir wollten doch beide nur Sex. Wir sind keine Seelenverwandten oder so. Ich weiß nicht, ob das viel bringt, wenn ich jetzt noch hier schlafe und wir uns den ganzen Krampf beim Frühstück antun. Ich finde, wir sollten es dabei belassen.«
    Er will ihr widersprechen, aus Höflichkeit, merkt aber dann, dass er erleichtert ist. Er zieht sich an und bringt Gemma hinunter zur Tür, so als hätte er sie als Kaufinteressentin gerade durch seine Wohnung geführt. Er bietet ihr an, ein Taxi zu rufen, aber fast im selben Moment entdeckt sie eins an der Kreuzung und streckt mit dem Selbstvertrauen von jemandem, den Taxifahrer selten ignorieren, den Arm aus.
    »Es hat wirklich Spaß gemacht«, sagt Xavier, und jetzt, wo es so plötzlich vorbei ist, blickt er tatsächlich irgendwie zärtlich auf die Begegnung zurück.
    Er küsst Gemma auf die Wange. Flink schlüpft sie auf die Rückbank des Wagens.
    Obwohl sie noch vor einer halben Stunde seinen Penis in der Hand hielt, werden sich die beiden nie mehr wiedersehen. Sie wird in acht Monaten nach Australien zurückgehen, mit zehn weiteren Männern schlafen und dann einen Kieferorthopäden namens Brendon heiraten. Sie wird zwei Kinder bekommen und halbtags in einem Sonnenstudio arbeiten, wenn sie groß sind. Sie und der Kieferorthopäde werden ihren Lebensabend auf Tasmanien verbringen und nur ein paar Wochen nacheinander sterben. Xavier sieht zu, wie das Taxi verschwindet, ein Strich im Dunkeln, und geht zurück ins Haus.
    Erst nachdem Xavier ein paar Stunden schlaflos in den zerwühlten Laken gelegen hat, spürt er mit voller Wucht jene charakteristische Leere, die jeder kennt, der öfters One-Night-Stands hat – der Schock der Verwandlung zweier Fremder in ein Paar und wieder in Fremde. Seit Xaviers Umzug nach Großbritannien haben sich die meisten seiner sexuellen Begegnungen so oder ähnlich abgespielt, auch wenn es etwas ungewöhnlich ist, dass sich die Wege danach so schnell trennen. Da war das Mädchen aus der Bar des British Film Institute, das seine Genitalien behandelte wie Geschirr, das abgeräumt werden muss, zupackend, aber ohne jedes Gefühl, und das nach einem ungeschickten Handgriff sogar einmal »Upsala, entschuldige« murmelte. Dann die Reisekauffrau, die ihm Murray auf einer Party vorgestellt hatte: Weder sie noch Xavier konnten sich beim Sex richtig entspannen, und hinterher gestanden sie einander kichernd, dass sie beide an Murray gedacht hatten, und bekamen ein furchtbar schlechtes Gewissen.
    Es gab noch andere, aber eigentlich war es immer wie jetzt. Wie Gemma gesagt hatte: Es bestand keine Seelenverbindung oder irgendetwas auch nur annähernd so Dramatisches, noch nicht einmal eine körperliche Verbindung, die über ein paar Augenblicke hinausgegangen wäre. Am Ende blieb jedes Mal das Gefühl, beim anderen kaum mehr hinterlassen zu haben, als hätte man nebeneinander in einem Zugabteil gesessen. Xavier weiß, dass es an ihm selbst liegt, diese Unvollständigkeit, dass er etwas zurückhält, sich weigert, sich ganz auf etwas einzulassen, und eigentlich geht er seit einiger Zeit sein ganzes Leben so an. Er weiß, dass das von einer Art Ehrfurcht vor den alten Zeiten in Melbourne herrührt, einer unbewussten Weigerung sich einzugestehen, dass all das unwiederbringlich vorbei ist, und er weiß auch, dass fünf Jahre eine verdammt lange Zeit sind, um so seltsam losgelöst von seinem eigenen Leben zu existieren. Sollte er einem Anrufer im Radio einen Rat geben, würde er von »Neubeginn« reden, von der Notwendigkeit, »für den Augenblick« zu leben, das Hier und Jetzt über die Vergangenheit zu stellen, ja genau, und eine beachtliche Zahl von Leuten überall in der Stadt würde vor dem Radio sitzen
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