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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben
Autoren: Mark Watson
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hielten Bec und Russell Händchen, irgendwo gab es Gelächter wegen eines verschütteten Biers, und aus dem Haus, wo ein Fußballspiel lief, drang Gegröle. Der späte Nachmittag war warm und freundlich, und niemand sonst nahm Notiz von dem Minidrama dort oben in der Luft.
    Der nächste Buchstabe war ein R. Dann ein I.
    »Das ist das Beste, was je passiert ist«, sagte Matilda und hob ihr Glas zu dem beherzten Himmelsschreiber Hunderte Meter über ihnen.
    »Es könnte immer noch irgendeine Werbung sein.«
    »Du Idiot.« Sie boxte ihn ein paar Mal gegen den Arm.
    Als das Flugzeug zu der einfachen Helix ansetzte, die schon auf den ersten Blick nur ein S werden konnte, lachten die beiden euphorisch los, so wie sie vielleicht vor zehn oder zwölf Jahren gelacht hätten, als sie sich noch fühlten wie die ersten Menschen, die je auf die Idee gekommen sind, sich über die Welt lustig zu machen.
    »Was soll ich tun?«, fragte Chris.
    Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Er erstarrte.
    Als der Pilot mit einem Schwenk den letzten sanften Abwärtsschwung des S vervollständigte, nahm Matilda sein Gesicht in beide Hände und sagte leise: »Küss mich.«
    »Was?«
    »Küss mich, hab ich gesagt. Nicht wie ein Kumpel. Küss mich richtig.«
    Chris sah sie an, ihre Augen, die groß und verletzlich waren, als hätte sie sich bei einer Dummheit ertappt, und ihr Haar, zu zwei ungleichmäßigen Zöpfen zusammengebunden. Er blickte auf ihr Altmännerhemd und ihre Labberjeans, auf die hübschen Konstellationen von Sommersprossen, die wie mit einem feinen Pinsel auf ihre Arme, ihren Hals und ihre Nase getupft wirkten. Er spürte, dass er zitterte. Er kannte sie seit fünfzehn Jahren. Sie ließ die Hände sinken und sah ihm direkt ins Gesicht.
    Weit über ihnen stieß der Pilot erneut hinab, und die beiden unten auf dem Boden hoben unwillkürlich die Köpfe und sahen, wie er den nächsten Buchstaben schrieb: ein T.
    »Christ!«, riefen sie wie aus einem Mund.
    Hand in Hand sahen sie drei lange Minuten zu, wie der ferne Kalligraph seine Botschaft vollendete: CHRIST LIVES . Nach der Spannung jenes ersten S wirkte das zweite geradezu banal. Chris stellte sich vor, wie der Pilot das Flugzeug landete, seine steifen Glieder vom Sitz zog und zu seinem fast schon verblassten Werk aus Kondensstreifen hochsah.
    »Okay«, sagte Matilda und zog die Augenbrauen hoch, »dann muss ich jetzt wohl tun, was du sagst.«
    Und er nahm sie und küsste sie, und die beiden standen küssend auf der Veranda, bis alle Köpfe sich in ihre Richtung drehten und Applaus losbrach, Applaus und Pfiffe, und alle Freunde sagten, das sei längst überfällig gewesen.
    Als Xavier aufwacht, braucht er wie immer einige Augenblicke, um zu begreifen, dass Matilda nicht da ist, dass sie mit ihrem Verlobten in Sydney ist, und noch ein paar mehr, um sich an die Ereignisse von letzter Nacht zu erinnern.
    Er steht auf und denkt an irgendetwas, um den Traum zu zerstreuen: an Murrays irgendwie gedämpfte Stimmung der letzten Woche, an die Küche, die mal saubergemacht werden müsste, daran, wie Gemma ihre Fingernägel in seinen Rücken geschlagen hat, und an den Streit zwischen Tamara und ihrem Freund in der Wohnung über ihm – oder hat er den auch geträumt? Es ist halb zwölf. Er geht ins Bad. Das zerknautschte Handtuch liegt immer noch in der Ecke wie ein Tramp in einem Hauseingang.
    Die laufende Dusche wechselt kapriziös zwischen heiß und kalt, wie eine nervöse Schauspielerin, die erst ihren Rhythmus finden muss. Als er gerade einen Fuß in die Wanne setzen will, klingelt es an der Tür. Mit einem kurzen Seufzer zieht er ihn wieder zurück und lauscht. Am Hauseingang gibt es für jede Wohnung eine Klingel. An der von Xavier und von Tamara steht nur Erste Etage und Zweite Etage , und die von Mel verkündet trotzig JAMIE UND MEL statt wie früher FAMILIE CARPENTER . Natürlich geht Mel letztendlich immer für alle zur Tür, weil sie im Erdgeschoss wohnt, und Xavier hört dann auch tatsächlich, wie Jamie aufgeregt herumrennt, als sie unten in den Flur tritt. Wird wohl ein Päckchen oder so was sein, denkt er, Mel wird es annehmen, und ich kann bleiben, wo ich bin. Oder einer von den Zeugen Jehovas, dann sagt Mel, ich wäre nicht da. Aber zu seiner Besorgnis folgen auf einen kurzen Wortwechsel – neben Mels Stimme hört er eine weitere Frauenstimme mit starkem Dialekt – Schritte auf der Treppe. Er zieht seine Boxershorts wieder an (die Dusche läuft beleidigt weiter, als
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