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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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eine Shownummer für die versteckte Kamera. Auf der hinteren Bank sitzt Amy, das Mädchen mit der Brille, und Julius hört, wie sie mit ihrer Entourage von Freundinnen kichert. Ihm ist sehr heiß.
    In der Mathestunde spürt er die ganze Zeit ihre Anwesenheit, besonders als Liam Rollin mal wieder sein typisches Furzgeräusch macht, als Julius sich setzt: Diesen Streich spielt er ihm schon seit fast vier Jahren, ohne dass er ihm je langweilig würde. Als es zur Mittagspause läutet, geht Julius sofort los zum Schultor, in der Hoffnung, dem Gedränge der anderen Schüler mit ihren schief sitzenden Krawatten zu entgehen. Die Schultasche auf dem breiten Rücken, versucht er, die Sticheleien hinter sich zu ignorieren. »Wohin so eilig, Brown? Zu Kentucky Fried Chicken?« Als er sich zum Tor durchdrängelt, hört er jemand anderen »Brown kackt hintern Gartenzaun« murmeln. Als Julius mit gesenktem Kopf vom Schulhof eilt, stößt er um ein Haar mit Clive Donald zusammen, seinem Mathelehrer, der den Kopf ebenfalls gesenkt hält; die beiden, in ihrer Melancholie unwissentlich vereint, entschuldigen sich halblaut.
    Es regnet immer noch. Eine Offensive herrlicher Gerüche aus Fast-Food-Läden lässt Julius’ Magen sehnsüchtig rumpeln. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, geht er vorbei. Bei Boots kauft er sich ein kalorienreduziertes Sandwich; die Frau an der Kasse sieht aus, als würde sie gleich fragen, ob das auch reicht für ihn. Er isst es, fast ohne etwas davon zu merken, auf dem Rückweg zur Schule, der an dem Supermarkt vorbeiführt, wo seine Mutter Simone gerade Wye Valley Cheddar in Scheiben schneidet und wo ein halbes Dutzend seiner Klassenkameraden Snacks und Bier kaufen. Gott sei Dank weiß niemand an der Schule, dass die Frau hinter der Bedienungstheke seine Mutter ist.
    Nach der Schule auf dem Weg zum Fitnessstudio muss Julius an Amy vorbeigehen, die diesmal allein ist. Sie putzt gerade mit einem Tuch ihre Brille. Sie sieht ihn an, nicht unfreundlich, wie er findet. Er fragt sich, wie das läuft, wenn man älter wird, wie die Leute jemanden finden, den sie heiraten. Ich muss abnehmen, denkt Julius, es ist völlig ausgeschlossen, dass jemand mit mir Hand in Hand die Straße entlangschlendert. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Mädchen in einem Club auf jemanden wie mich zeigt und sagt: Das ist mein Freund.
    Im Fitnessstudio zieht er seine Mitgliedskarte durch den Schlitz und drückt gegen das Drehkreuz, aber es weigert sich, seinem massigen Körper zu weichen, als hätte jemand den Arm ausgestreckt, um ihn aufzuhalten. Er versucht es noch einmal.
    Das hämische Mädchen sieht von seinem Computermonitor hoch.
    »Du musst neu bezahlen. Der Ausweis ist abgelaufen.«
    Julius spürt seine Eingeweide absacken.
    »Aber ich dachte«, sagt er leise, »ich dachte, erst Ende der Woche.«
    »Nein, jetzt. Siebenundsechzig Pfund für den Mai, oder vierhundert für das ganze restliche Jahr.«
    Julius ist sich fast hundertprozentig sicher, dass sie nur deshalb so einen Ton drauf hat, weil er dick ist und nicht aussieht wie jemand, der in ein Fitnessstudio gehört. Mit dem hageren Typ im Rugby-Shirt, der ihn beiseitestößt, um durch das Drehkreuz zu kommen, und ihr dabei kokett zuzwinkert, würde sie sicher nicht so reden.
    Julius hat zweiunddreißig Pfund auf seinem Konto – oder besser gesagt, minus neunhundertachtundsechzig, bei einem Dispo von tausend. In seiner Hosentasche ist der Rest des Zwanzigers, den Andrew Ryan ihm hingeworfen hat, als er ihn feuerte.
    »Können Sie mich nicht einfach …?«, murmelt Julius.
    »Wie bitte?« Sie blickt kurz auf das klingelnde Telefon auf ihrem Schreibtisch; sie würde lieber rangehen.
    »Können Sie mich nicht einfach dieses eine Mal durchlassen, und ich zahle nächstes Mal?«
    »Ich fürchte, das ist nicht möglich«, sagt das Mädchen.
    Julius schießt durch den Kopf, dass er sich gegen das Drehkreuz werfen könnte, einfach durchkrachen wie ein Elefant durch einen Busch, und ehe sie wüsste, was geschieht, wäre er drin.
    »Bitte. Ich muss … ich bin gerade im Training. Ich muss was tun.«
    Er kann förmlich sehen, wie sie sich verkneift zu sagen: Scheint ja nicht viel zu nutzen – sie verkneift es sich nicht, um seine Gefühle zu schonen, sondern aus einem professionellen Instinkt heraus, dass es Ärger geben könnte. Wenn man merkt, was die Leute nicht zu sagen versuchen, wenn man die Beleidigung versteht, um die sie herumschleichen, ist das manchmal fast schlimmer,

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