Elf Leben
aus wie ein Kaktus oder so was.
Ich bin total verknallt in meine Tante. Das klingt jetzt bestimmt wie ein Witz, aber seit ich es gemerkt hab, überleg ich die ganze Zeit, was ich machen soll. Das war vor vier Jahren. Sie ist nach einem Familientreffen zum Frühstück runtergekommen, nur im Nachthemd, und ich hab voll den Schreck gekriegt, als ich gemerkt hab, dass ic h … Ich meine, ich bin neunundzwanzig und sie ist achtundvierzig. Ich weiß, da ist nichts zu machen. Ich musste es bloß mal jemandem erzählen. Ich komm mir vor wie der einzige Mensch auf der Welt, der in seine Tante verliebt ist!
Angst vor dem Tod. Ich wache mitten in der Nacht auf und kann an nichts anderes mehr denken. Allein der Gedanke daran, dass das alles hier verschwindet und danach nichts mehr kommt. Es ist bescheuert, denn ich mache ja nichts weiter als in einem Café zu arbeiten. Aber wenn ich daran denke, nicht mehr zu existieren! Ich weiß, es sollte mir eigentlich egal sein, ich krieg ja eh nichts mehr davon mit. Aber gerade deshalb ist es ja so beängstigend. So betäubend.
Xavier, hier ist Clive. Wir haben ein paar Mal miteinander gesprochen, in Ihrer Sendung, die ich sehr gern höre. Ich bin der Mann, dessen drei Ehe n …
Das sind die Schwierigsten, die, die ihn in Versuchung führen, die Eine-Antwort-pro-Mann-Regel zu brechen. Xavier stellt sich vor, wie Clive in der Hoffnung auf eine Antwort die Website aktualisiert, und denkt an einen Schrank voller Fotos, Briefe und Karten, ein knarrendes geistiges Lagerhaus enttäuschter Hoffnungen, das Gefühl der Niederlage, das Clives ganzes Verhältnis zu seiner Vergangenheit bestimmt. Xavier merkt schließlich, dass ihm nichts weiter übrig bleibt, als Clive ganz aus seinen Gedanken zu verbannen. Er widmet sich wieder den anderen E-Mails. Er schreibt der Akne-Geplagten, dass es gute Behandlungsmöglichkeiten gibt, und schickt ihr den Link zu einer Website. Er versichert dem verliebten Neffen, dass Schwärmereien für Familienmitglieder – besonders außerhalb des engeren Familienkreises – erstaunlich oft vorkommen. Er stimmt zu, dass der Tod beängstigend ist, gibt aber auch zu bedenken, dass sich Körper und Geist mit den Jahren an den Gedanken gewöhnen, ja sogar eine ersehnende Bereitschaft dafür entwickeln. Xavier weiß zwar nicht genau, ob das stimmt oder bloß ein tröstlicher Mythos ist, glaubt aber gern Ersteres, und es ist eigentlich immer gut angekommen.
Unten bewegt sich Jamie im Schlaf und gibt eine Art einsilbigen Schrei von sich, wie ein Tenor, der sich warm singt, schläft dann aber offenbar wieder ein. Genau an diesem Tag in dreiundzwanzig Jahren wird er das Promotionsangebot annehmen, das zu jener Arbeit führt, mit der ihm ein kleiner Durchbruch gegen zwei Krebsarten gelingen wird. Der Nachrichtensender macht weiter unnachgiebig Jagd auf die jüngste Vergangenheit, und die Schlagzeilen ( WEITERE JOBVERLUSTE AN DER WALL STREET , HUNDERTE OBDACHLOSE NACH ERDBEBEN ) sausen durch den unteren Bildrand wie SMS von irgendeiner nervösen, allwissenden Quelle.
Am Freitagabend, nachdem Xavier sich im Kino eine mittelmäßige Filmbiografie eines amerikanischen Künstlers angesehen hat, die er morgen besprechen wird, ertappt er sich dabei, wie er zur Vorbereitung auf Pippas Besuch die Wohnung aufräumt. Er weiß sehr wohl, dass es eine Situation wie aus einem abgedroschenen Witz ist, auch wenn seine Bemühungen nur oberflächlich sind, besonders im Vergleich zu der Ernsthaftigkeit, mit der Pippa die Sache angeht. Er sieht in die Schränke, ob noch alles haltbar ist, spült ein paar Härchen aus der Badewanne, kauft im Eckladen frische Blumen und ersetzt die mittlerweile etwas schlaffen, die Pippa letzte Woche mitgebracht hat. Ich bin wie ein Student, der für eine Prüfung büffelt, denkt Xavier mit einem halben Grinsen.
Als er am Abend zu Bett geht, hört er über sich Tamara mit ihrem Freund streiten. Er denkt kurz an die Online-Petition für Temposchwellen und schimpft murmelnd mit sich selbst, weil er vergessen hat zu unterschreiben. Er liegt eine Weile wach und lauscht dem Regen, der auf die Wellblechdächer der Garagen hinter Mels Garten prasselt, und das Geräusch erinnert ihn daran, wie seine Mutter auf der Schreibmaschine Briefe an alte Freunde in England schrieb. Tipp-tipp-tipp-tipp-tipp. Er denkt – ebenfalls nur kurz – an den einsamen Clive und an den Mann mit der Angst vor dem Tod und überlegt dann, ob er sich auf Pippas Besuch morgen freut oder
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