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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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nicht.
    Als sie am nächsten Tag um Viertel nach zwölf immer noch nicht da ist, beschleicht ihn das ungute Gefühl, dass irgendetwas passiert sein könnte. Unzuverlässigkeit passt irgendwie nicht zu ihr, andererseits hat jeder mal einen schlechten Tag. Die Wohnung scheint den Atem anzuhalten. Weitere zehn Minuten vergehen. Xavier nimmt sein Handy, um ihr eine SMS zu schreiben, aber genau in dem Moment klingelt es an der Tür. Er schreckt hoch, obwohl er auf das Geräusch gewartet hat, oder vielleicht gerade deswegen.
    Auf dem Weg durchs Treppenhaus hört er Mel zu Jamie sagen: »Nein, Schatz, wir müssen nicht aufmachen, das ist nicht für uns.« Er öffnet die Tür und tritt verdutzt einen Schritt zurück. Da steht Pippa mit ihrem blaugelben Wäschesack und ist über und über mit Schlammflecken bedeckt, die sich mehr oder weniger diagonal von ihren Stiefeln bis hoch über ihren Regenmantel ziehen, wie Reibekäse auf einer Pizza. Sie hat Schlammspritzer im Gesicht und matschbraune Punkte überall auf ihrer Tasche.
    »Du lieber Himmel! Was …?«
    »Soll ich hier draußen Wurzeln schlagen, oder wie?«
    Sie sind noch nicht oben angelangt, da kennt er schon fast die ganze Geschichte.
    »So ein Scheiß-, tschuldige, ›Scheiß‹ sagt man nicht – so ein vermaledeiter Lkw –«
    »Scheiß ist schon okay«, sagt Xavier.
    »So ein Scheiß-Laster, ja«, fängt sie wieder an, »so ein richtig fettes Ding, fährt da an der Bushaltestelle an mir vorbei, und ganz im Ernst, ja, der sieht mich da stehen, und ich schwör, der ist voll mit Absicht mitten durch die Pfütze gefahren, nur um mich vollzuspritzen. Ganz im Ernst, voll mit Absicht. Ich hab ihn lachen sehen, wie er weggefahren ist.« Die Wörter sind in ihren Dialekt gewickelt wie Bündel mit schwarzem Klebeband darum. »Dem hab ich aber was hinterhergerufen, das sag ich dir, da hätten ganz andere mit den Ohren geschlackert.«
    »Das glaub ich auch«, sagt Xavier.
    An der Schwelle zu seiner Wohnung bleibt sie entschlossen stehen.
    »Also, ich würde jetzt mal Folgendes vorschlagen. In der Tasche hier hab ich zum Glück nicht nur mein Putzzeug, sondern auch einen Extrabeutel mit meinen Laufsachen, weil ich nachher laufen gehen wollte, ich geh nämlich ziemlich oft laufen, auch wenn man das vielleicht nicht denkt. Wenn ich mal dein Bad benutzen darf, würde ich mich erstmal duschen und dann meine Laufsachen anziehen, das sieht zwar ein bisschen komisch aus, aber egal, und dann putze ich ganz normal und mach das Bad extra gründlich, was hältst du davon?«
    »Klingt gut«, sagt Xavier. »Möchtest du einen Tee? Danach, meine ich. Nach dem Duschen.«
    »Gernstens, Schätzchen.«
    Pippa setzt sich auf die Türschwelle, streckt die Beine aus und streift seufzend ihre schlammbespritzten Stiefel ab. Xavier geht ins Bad und wirft die Dusche an. Was für ein weiser Gedanke, vor Pippas Besuch die Wohnung ein wenig aufzuräumen!
    Während Xavier in der Küche zugange ist, zieht es seine Gedanken unwiderstehlich zu Pippa hin – wie sie sich aus ihren Sachen schält und sie ohne große Umstände auf den Boden wirft. Es ist schon ein Weilchen her, dass sein Badezimmerboden Bekanntschaft mit einem BH gemacht hat. Nur für eine Sekunde stellt er sich ihre großen, befreiten Brüste vor, ihre kräftigen Schenkel und ihre nackten Füße auf dem Wannenboden. Er ist erstaunt, wie intim es sich anfühlt, jemanden nackt irgendwo in der Wohnung zu haben. Als die Dusche aufhört zu rauschen, fällt ihm ein, dass er ihr gar kein Handtuch gegeben hat, aber sie hat sich zweifellos auf dem Weg eins mitgenommen. Auch das ist seltsam: das Gefühl, dass sie weiß, wo alles liegt, all seine Sachen, obwohl sie einander kaum kennen. Er weiß nicht recht, ob ihm der Gedanke behagt oder nicht.
    Dann sitzen sie mit ihrem Tee im Wohnzimmer.
    »Die Wohnung sieht noch gut aus seit letztem Mal«, sagt Pippa. Sie trägt jetzt ein weißes T-Shirt und eine Jogginghose, und ihr nasses Haar ist zusammengebunden.
    »Ich hab mir Mühe gegeben.«
    »Wenn du so weitermachst, bin ich bald arbeitslos!«
    »Nein, ich … ich glaube nicht.«
    Für einen Moment herrscht Stille. Unten brüllt Jamie. Trotz des andauernden Nieselregens rollen ein paar Jungen auf ihren Skateboards trotzig die Bayham Road hinunter; der Kleinste hat Mühe, hinterherzukommen. Xavier weiß nicht genau, ob es eine wohltuende Stille ist oder eine peinliche.
    »Du gehst also laufen?«
    »Dreimal die Woche. Mehr vertragen meine Knie im Moment

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