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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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als hätten sie es tatsächlich gesagt.
    »Tut mir leid, das geht einfach nicht«, sagt das Mädchen noch einmal, als läge es jenseits des Menschenmöglichen, ihn hineinzulassen. Beim neunten Klingeln geht sie ans Telefon, buchstabiert den Namen des Fitnessstudios und legt wieder auf.
    Auf dem Heimweg träumt Julius von Amy, aber die Kluft zwischen ihnen ist zu tief, als dass seine Fantasie eine Brücke zu irgendeinem noch so weit hergeholten Szenario schlagen könnte. Vielleicht ist Julius zu nüchtern, zu mathematisch veranlagt für Fantasien; sobald er sie heraufzubeschwören versucht, brechen sie unter dem Gewicht der Wirklichkeit zusammen. Alles, was bleibt, ist eine brutale Tatsache. Ich muss abnehmen, ich muss irgendwie zurück ins Fitnessstudio, ich brauche Geld.
    Während Julius ein paar Stunden später unruhig schläft, ruft sein Mathelehrer Clive Donald wieder in Xaviers Sendung an, deren Thema heute lautet: »Wenn Sie in einer anderen Epoche leben könnten«. Clive redet ein wenig über die zwanziger Jahre, fängt aber bald wieder von seiner Einsamkeit an, bis Murray ihm das Wort abschneidet.
    Am Dienstagnachmittag, auf dem Weg zum Eckladen, begegnet Xavier Tamara, die einen Zettel an das Brett unten an der Treppe heftet. Es zeigt das Bild eines jungen Mädchens, das auf den ersten Blick eine spektakuläre Tanzbewegung zu vollführen scheint, tatsächlich aber nach einem Zusammenstoß mit einem Auto in einer schrecklichen Verrenkung in die Luft geschleudert wird. Das Bild ist Teil einer Kampagne der Stadt London, um das Bewusstsein für Verkehrsunfälle zu schärfen. Tamaras T-Shirt rutscht hoch und gibt den Blick auf einen Streifen nackte Haut frei, als sie sich hochreckt, um die rechte obere Ecke zu befestigen, die aber wieder wegschnappt.
    »Kann ich dir helfen?«
    Xavier hebt seinen langen Arm und drückt die Ecke mit dem Blue-tack-Kügelchen an das Brett.
    »Danke.« Wie ein Maler tritt Tamara einen Schritt zurück, um sich das Plakat anzusehen. »Es geht um eine Petition für Temposchwellen.«
    »Temposchwellen.«
    »Wir brauchen auf dieser Straße Temposchwellen. Findest du nicht auch? Die Leute kommen hier mit neunzig Sachen runtergerauscht, dabei ist das ein Wohngebiet. Ist doch so, oder?«
    Xavier ist überrascht, dass das Thema sie so bewegt.
    »Ja, doch, wahrscheinlich hast du –«
    »Ich habe eine Online-Petition gestartet«, sagt sie. »Es wäre super, wenn du auch unterschreiben würdest.«
    »Mach ich«, verspricht er. »Mach ich auf jeden Fall.«
    Als hätte es einen Abpfiff gegeben, spüren sie beide, dass das Gespräch dem Ende zugeht.
    »Und, hast du irgendwas vor heute Abend?«
    »Arbeiten«, sagt Xavier. »Und du?«
    »Mein Freund kommt vorbei«, antwortet sie.
    »Wird bestimmt schön.«
    »Ja.«
    »Na dann, mach’s gut!«
    »Du auch. Und denk an die Petition!«
    Xavier hat wirklich vor, auf die Website zu gehen und seinen Namen auf die Unterschriftenliste zu setzen, aber schon als er die Straße zum Eckladen hinaufgeht und leichtsinnige Fahrer mit potenziell tödlichen Geschwindigkeiten an ihm vorbeirasen, wird dieses Vorhaben in seinem Kopf in eine untergeordnete Schublade einsortiert und ist schließlich vergessen.
    Als Murray am Donnerstagabend auf einen Wein in die Bayham Road Nr. 11 kommt, um mit Xavier auf das Ende ihrer Arbeitswoche anzustoßen, fällt ihm sofort auf, wie sauber es in Xaviers Wohnung ist.
    »Bist du sicher, dass du n-n-nicht auf einmal eine Frau hast?«
    »Bloß eine Putzfrau.« Xavier gießt den Rest einer Flasche Cabernet Sauvignon in zwei bauchige Gläser. »Aber eine sehr gute.«
    »Sieht ganz so aus. Ich trau mich ja gar nicht, was anzufassen.«
    »Warte erst, bis du sie kennenlernst. Dann traust du dich erst recht nicht mehr.«
    »Ist sie verrückt?«
    »Nein, sie ist bloß ziemlich … schräg.«
    Als Murray aufbricht und auf der Türschwelle weiße Wölkchen ausatmet, ist es kurz nach fünf, und Xavier hat wenig Lust zu schlafen: Die Stille der Nacht weicht bereits den vertrauten Ouvertüren des frühen Morgens. Ein Feuerwehrauto rollt mit ausgeschalteter Sirene die Bayham Road hinab. In einer Stunde werden ein paar fanatische Jogger die ersten Runden drehen, und bald darauf wird Tamara aufstehen, genau wie jede Menge anderer Berufstätiger. Xavier fährt den Computer hoch und beginnt, sich durch die aufgelaufenen Hörer-E-Mails zu ackern.
    Xavier, ich habe furchtbare Haut. Ich meine nicht bloß ein paar Pickel. Es ist richtig schlimm. Ich sehe

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