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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Arm.
    »Hey Mann, müde?«
    Julius nickt.
    »Ich auch.« Boris verzieht das Gesicht. »Heute Nachmittag in Werkstatt, heute Abend hier, dann morgen früh wieder in Werkstatt.«
    Weiter vorn im Gebäude – der hintere Teil eines Restaurants ist ungefähr dasselbe wie das untere Stockwerk in einem edwardianischen Haus – sitzt der Besitzer des Chico’s, Andrew Ryan, im Gastraum. Der Flamenco-Gitarrist, der samstagabends hier spielt, hat sein Instrument eingepackt und ist mit einem Umschlag voll Geld nach Hause nach Hackney gefahren. Stammgäste, den Bauch voll Fleisch, Knoblauch und Öl, wurden in Taxis gesetzt und weggeschickt. Andrew Ryan trinkt Whisky. Er winkt Pascal heran, heute Abend Oberkellner, damit er sein Gläschen nachfüllt.
    Andrew Ryan, achtundvierzig, mit Lederhaut und yogastraffem Körper, ist stinksauer. So was wie mit dieser Kritik passiert mir immer, verdammt noch mal, denkt er. Die Carstairs, die blöde Fotze. Es ist genau wie mit diesem West-End-Theaterstück, in das er investiert hat, der letzte Scheiß war das, und jetzt geht in Dubai alles den Bach runter und Hayley mit ihrem Rumgereise bringt ihn noch an den Bettelstab. Ein Auslandsjahr, sonst noch Wünsche? Macht heute überhaupt noch jemand unter fünfundzwanzig einen Finger krumm? Warum war bloß alles, was ich im letzten Jahr angepackt habe, ein Griff ins Klo?, fragt er sich, stürzt seinen Whisky hinunter und steht wackelig auf, um im Lokal herumzulaufen.
    »In Kiew, weißt du, immer noch schrecklich kalt«, sagt Boris, während er den nächsten klappernden Korb des riesigen Gastronomiegeschirrspülers belädt. »Kälte hier ist nix. In Kiew, weißt du, ein Typ, hat getrunken, pinkelt auf Straße, und ist so kalt, dass Schwanz festfriert an …«
    Julius’ Augenlider fühlen sich an wie Weichkäse. Wieder taumelt er in eine Szene hinein, die zu kurz ist, um sie zu fassen; halb unbewusst nimmt er wahr, dass er von irgendjemandem spätabends an seiner Schule herumgehetzt wird, vielleicht von Liam Rollin, der ihn ›Sumo‹ nennt und jedes Mal, wenn er vorbeigeht, Furzgeräusche macht.
    »Pass auf, Mann!«
    Schlagartig ist Julius wieder in der Küche. Ein Teller fällt ihm aus der Hand und zerspringt mit einem lauten Knall, der ihn an einen brechenden Knochen denken lässt, auf dem harten Boden.
    »He, nicht schlafen, Mann«, schilt ihn sein Vorgesetzter.
    »Tut mir leid.«
    Julius klaubt auf allen Vieren die Scherben zusammen, als plötzlich jemand in der Tür steht. Julius’ Ohren glühen. Er hört langsame, ungleichmäßige Schritte näher kommen, und hinter ihm atmet Boris ein paar Mal kurz und nervös.
    »Was ist denn hier los, verdammte Scheiße?«, fragt Andrew Ryan und stützt sich vier Schritte von Julius entfernt mit dem Arm an der Wand ab.
    Julius, der spürt, wie ihm das Hemd am Rücken klebt, schaut hoch zu dem Restaurantbesitzer, den er in seiner Zeit hier erst einmal gesehen hat.
    »Tut mir leid«, murmelt er. »Es tut mir leid.«
    »Denkst du, du bist zum Spaß hier?«, fragt Andrew Ryan und blickt verächtlich auf den Fleischkloß, der da vor ihm kauert. Wie hat dieser Fettarsch überhaupt einen Job in meinem Laden gekriegt?, fragt er sich.
    »Nein«, murmelt Julius und sammelt ohne hochzusehen die Scherben auf.
    »Wen wundert es«, sagt er, und in ihm brodelt zähflüssiger, richtungsloser Zorn, »wen wundert es, dass wir eine Scheißkritik kriegen, wenn in der Küche eine Truppe ahnungsloser … Honks arbeitet?«
    Seine Untergebenen stehen da wie vor einem Kriegsgericht, keiner sagt einen Mucks.
    »Kriegt irgendwer in diesem Laden hier auch mal was gebacken, verdammte Scheiße?«
    Auch darauf kommt keine Antwort. Andrew Ryans Zorn braucht ein Opfer. Er richtet einen nikotingelben Finger auf Julius.
    »Wie ist dein Name?«
    »Julius«, informiert ihn Julius mit gedämpfter Stimme.
    »Wie? Julie?«
    »Julius.«
    »Und wie lange arbeitest du schon hier, Julius?«
    »Acht Monate.«
    »Guck mich an, du Vogel! Wie lange?«
    »Acht Monate.«
    »Wie wär’s mit einem ›Sir‹ als Anrede? Oder hat man hier als Chef keinen Respekt verdient?«
    In zwanzig Jahren wird Andrew Ryan in einem Hotelzimmer in Hongkong auf diesen Vorfall zurückschauen – nachdem er in der Zwischenzeit nicht ein einziges Mal daran gedacht hat – und verblüfft feststellen, dass sein jüngeres Ich manchmal ein absolutes Arschloch war, nicht zuletzt durch den Alkohol und die Drogen. Er wird sehr viel ruhiger sein im Alter, und er wird sich

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