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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Mutter Simone auf den Weg zu ihrer Supermarktschicht macht. Sonntags arbeitet sie von zehn bis vier. Sie pendelt zwischen Kasse und Bedienungstheke, wie sie es in ihrem letzten Lebenslauf formulierte, als wäre von einer Sommer- und einer Winterresidenz in unterschiedlichen Hemisphären die Rede. Als die Tür vibrierend ins Schloss fällt und kurz darauf die Schäferhunde von nebenan, eingepfercht und aufgekratzt, ein paar Mal aufjaulen, taucht Julius nur zu gern wieder in die Bewusstlosigkeit ab.
    Gegen ein Uhr setzt er sich im Bett auf, sieht sich zehn Minuten einer Dokusendung über Windparks an, schaltet den Computer ein, wälzt sich dann aber schwerfällig auf die Seite und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
    Um halb fünf kommt Simone von der Arbeit zurück. Die Schicht war okay, abgesehen von einem frostigen Wortwechsel mit einem Kunden, der eine andere Vorstellung von »drei dicken Scheiben Schinken« hatte als sie.
    »Du hast doch nicht etwa die ganze Zeit im Bett gelegen?«
    »Ich bin krank«, sagt Julius und hustet, recht überzeugend sogar. Er fühlt sich, als würde ihn ein riesiger Briefbeschwerer aufs Bett drücken.
    »Wie war’s gestern bei der Arbeit?«
    Er hat eigentlich noch gar nicht wieder daran gedacht.
    »Ich bin rausgeflogen.«
    »Was?«
    Simone Brown tritt einen Schritt ins Zimmer und betrachtet ihren übergroßen Sohn, der aussieht wie ein Tier im Winterschlaf in seinem Bau. Sie trägt die blaue Supermarkt-Strickjacke und darunter ein T-Shirt mit der Aufschrift: BEI UNSEREN PREISEN WIRD DER HUND IN DER PFANNE VERRÜCKT . Wäre es nach dem Willen des Marketingchefs gegangen, hätte das Kassenpersonal diesen Monat Hundeschlappohren getragen, aber der Vorschlag wurde abgelehnt.
    »Ich bin rausgeflogen.«
    »O Julius.«
    »Ich hab nichts gemacht.«
    »Aber du musst doch irgendwas gemacht haben.«
    »Ich hab einen Teller fallen lassen, und er ist kaputtgegangen.«
    »Und deshalb haben sie dich rausgeschmissen?«
    »Ja.«
    Simone hört flehendes Pfotenkratzen an der Innenseite der Nachbartür und das hitzige Gebell der Hunde, die darum betteln, ausgeführt zu werden, während der Nachbar – ein Postbote im Ruhestand – ihnen befiehlt, die Klappe zu halten.
    »Nur deshalb würden sie dich doch nicht rauswerfen.«
    »Haben sie aber.«
    »Du bist ihnen bestimmt irgendwie frech gekommen.«
    »Nein, ich hab nichts gesagt.«
    Simone blickt hilflos auf das, was von ihrem Sohn zu sehen ist.
    »Hast du Wäsche?«
    »Lass mal. Kann ich selber machen.«
    Ein bockiger Wind heißt Julius zum Montagmorgen willkommen und weht ihm auf dem Weg zur Bushaltestelle Regen ins Gesicht. Das Wartehäuschen bietet nur ungefähr der Hälfte der blassen Leute Platz, die auf die 436 warten. Julius fragt sich, warum die Linien so hohe Zahlen haben. Er könnte wetten, dass es in London nicht so viele Buslinien gibt. Er merkt, wie zwei Frauen über ihn reden, und hat den Verdacht, dass sie verärgert sind, weil er so viel Platz im Unterstand einnimmt. Er schlurft hinaus in den Regen, und die beiden Frauen stellen sich auf seinen Platz.
    Im Bus ist es feucht, proppenvoll und unruhig, wie in einem Koffer voll nasser Sachen nach einem verregneten Wochenendtrip. Die Fahrgäste, schon jetzt dicht gedrängt, sehen mit mäßiger Begeisterung zu, wie die Neuankömmlinge nacheinander ihre Karten gegen den Sensor drücken. Die Busfahrerin lauscht dem gedämpften Piep-piep des Sensors, der sie an irgendeinen Apparat im Krankenhaus erinnert. Sie hat früher in der Hämatologie gearbeitet, bevor sie sich von einer Kampagne der Londoner Verkehrsbetriebe verlocken ließ, die mehr Frauen für den Beruf begeistern sollte. Es war der größte Fehler ihres Lebens.
    In knirschendem Stop and Go tuckert der Bus dahin. Bei jedem Bremsenquietschen werden die Fahrgäste ineinander geworfen. Sie stecken hinter einem Bus fest, der zurück ins Depot fährt; vorn auf der Anzeige steht SORRY , ICH MACHE PAUSE . Als sie endlich vorbeifahren können, liest Julius flüchtig das Wort SORRY und stellt sich vor, der Bus würde sich dafür entschuldigen, dass er sie aufgehalten hat. In diesem Moment muss die Fahrerin bremsen, und Julius prallt rückwärts gegen eine kleine dunkelhäutige Frau mit Einkaufstaschen. Sie schnappt nach Luft unter seinem Gewicht und sieht Julius vorwurfsvoll an. Ein paar Leute tauschen amüsierte Blicke aus. Julius’ Körperfülle ist für sich genommen schon ein Witz, als wäre sein bloßes Auftreten in der Öffentlichkeit

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