Elf Leben
sie mit konzentrierter Zornesmiene den Diskus in die Hand nimmt, sich leicht gebückt mit einer ausgeklügelten Schrittkombination um die eigene Achse dreht und die Scheibe schließlich mit einem Schrei von sich schleudert. Auf die Landung folgt spärlicher Applaus, ein Mann markiert die Stelle mit einem Pflock, und die nächste Wettkampfteilnehmerin bereitet sich darauf vor, dasselbe zu tun.
Um drei Uhr geht Pippa, mit einem Umschlag, in den Xavier fast etwas Trinkgeld hineingelegt hätte, was er dann aber doch nicht getan hat, weil es gönnerhaft wirken könnte.
Sie kauft Gemüse und Reis im Eckladen – der indische Ladenbesitzer strahlt sie an, eine neue Kundin – und fährt mit dem Bus nach Hause. Um halb sieben, als ihr die Müdigkeit in die Glieder kriecht, beginnt sie mit einem Risotto für sich und ihre Schwester, die gerade in einem Hotel in Holborn putzt.
Kurz nachdem Pippa den Reis aufgesetzt hat, verlässt Julius Brown das Haus, mit wild klopfendem Herzen, und geht durch den Regen zu der dunklen, heruntergekommenen National-Rail-Station eine halbe Meile von zu Hause entfernt statt ins Restaurant wie an vierunddreißig aufeinander folgenden Samstagabenden zuvor. In der Jackentasche hat er ein Küchenmesser. Seine Hände zittern, und sein Magen fühlt sich an, als könnte er bei jedem Schritt herausfallen, einfach so – plopp – auf den Gehweg.
In den letzten Tagen hat Julius alles Mögliche probiert, um an schnelles Geld zu kommen, aber alle Wege waren verbaut. Er wollte auch eigentlich nur ungern seine Mutter anpumpen, und kaum, dass er gefragt hatte, machte er auch schon einen Rückzieher.
»Mum?«
»Ja, Julius?«
»Wenn ich dich fragen würde, ob du gerade ein bisschen Geld hast, das du mir leihen könntest, hättest du bestimmt keins, oder?«
»Wieviel denn?«
»So ungefähr siebenundsechzig Pfund.«
»Siebenundsechzig Pfund! Wofür denn?«
»Fürs Fitnessstudio.«
Simone sah Julius traurig an.
»Du weißt, Schatz, ich kann es mir im Moment leider nicht –«
»Ich weiß. Schon gut.«
»Kann ich dir vielleicht dreißig geben?«
»Nein, nein. Schon gut.«
Er versuchte es auch bei seinem Bruder, aber Luke wich ihm aus, wie immer.
»Ich muss mich gerade um ein paar Sachen kümmern. Frag mich in ein paar Wochen noch mal, ja?«
Von Zeit zu Zeit scheint Luke von brüderlichen Gefühlen für Julius gepackt zu werden; dann taucht er einfach so auf und nimmt Julius mit auf eine Spritztour in seinem heiser röhrenden Sportwagen oder schmuggelt ihn auf eine Firmenparty in irgendeiner schummrigen Bar und stellt ihn fast schon aufdringlich den anderen vor – »das ist mein Bruder«. Aber zwischen diesen Höhepunkten liegen ziemlich lange Lücken, in denen Luke sich weder blicken lässt noch SMS beantwortet oder zurückruft und sich weiter um seine »Sachen kümmert«, was auch immer das heißen mag. Julius weiß nicht genau, wo er arbeitet, nur dass er irgendwo in Kent irgendwas mit Autos macht. Er trägt Goldketten und Wildlederjacken zu Jeans.
Julius hat versucht, woanders einen Job zu finden, und stapfte nach der Schule die Hauptstraße auf und ab, immer darauf bedacht, dass ihn keiner seiner Klassenkameraden sieht. Er fragte in sieben Läden, zuletzt in einer Zoohandlung, wo es nach Heu und Kaninchenpipi roch und ein Papagei ihm ins Gesicht kreischte, kaum dass er einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte.
Am Donnerstag wurde Julius’ Name laut in der Schulversammlung genannt, als einer von fünf Auserwählten, die die Schule bei der Matheolympiade der Londoner Schulen, Mathdown, in Kensington vertreten sollen. Als der Direktor seinen Namen vorlas, kroch amüsiertes Geflüster durch den Saal, und seine Ohren wurden rot wie glühende Kohlen. Die Lehrer, darunter Clive Donald, warfen den kichernden Schülern halbherzig tadelnde Blicke zu; die meisten von ihnen sind der Ansicht, dass die verpflichtende Schulversammlung für Jugendliche in diesem Alter Zeitverschwendung ist. Julius hörte aus dem Gekicher Amys überheblichen Unterton heraus und fühlte sich, als hätte in ihm irgendeine chemische Umwandlung stattgefunden, als wäre eine Entscheidung gefallen.
Als er an diesem Morgen aufwachte, hätte er trotzdem nicht geglaubt, dass er es wirklich durchziehen würde. Er lag da, die Bettdecke über dem Kopf, während Simone im Supermarkt Gemüse über den Scanner zog, Pippa vom Lkw vollgespritzt wurde und London sich um seine Angelegenheiten kümmerte. Er stand lange unter der
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