Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
ausgesprochen klingt er lächerlich, dieser tausendmal im Kopf geprobte Satz, und er spürt, dass er Gefahr läuft, von seinem Opfer nicht ernst genommen zu werden. Die beiden sehen einander in der Dämmerung an; Julius, zehn Jahre jünger, hat mehr Angst als der Mann, den er auszurauben versucht.
    »Was?«
    »Geben Sie mir alles, was Sie haben.«
    Ollie kneift die Augen zusammen, um zu sehen, wer ihn da überfällt. Der Junge ist ein echter Brocken. Würde er, Ollie, sich umdrehen und wegrennen, hätte der sicher keine Chance. Aber womöglich ist er nicht allein.
    »Und wenn nicht?«
    Julius schwitzt.
    »Geben Sie es mir einfach.«
    Ollie will nach Hause. Er betrachtet das immer noch nicht als Bedrohung, eher als Unannehmlichkeit.
    »Hör mal, du lässt mich jetzt durch, verstanden?«
    »Geld her.«
    »Was willst du denn machen?«
    Julius sieht Ollies ungeduldiges, skeptisch verzogenes Gesicht, und er hat das deutliche Gefühl, dass Ollie das ist, was Liam Rollin in zehn Jahren sein wird, dass er einer seiner Peiniger in der Schule wäre, lägen ihre Geburtsdaten nicht ein Jahrzehnt auseinander. In seinem Kopf bricht ein Damm, er packt Ollie unsanft beim Handgelenk und zieht mit der anderen Hand das Messer unter seiner Jacke hervor. Ollie schreit auf, vor Schmerz oder vor Schreck. Julius hält ihm das Messer dicht vor die Brust. Es ist so groß, dass es fast schon absurd aussieht, wie ein Messer, mit dem man knuspriges Brot schneiden würde, aber Klinge ist Klinge, und er spürt, wie sich das Handgelenk seines Opfers vor Angst versteift.
    Ollie wühlt mit der freien Hand in seiner Hosentasche. Er zieht ein paar zerknitterte Geldscheine heraus.
    »Hier, mehr hab ich nicht.«
    Julius wollte sich jemanden schnappen und fertig, weiter hat er nicht gedacht. Er will bestimmt nicht darüber verhandeln, wie viel er bekommt. Aber das reicht nicht annähernd. Er glaubt, Schritte zu hören.
    »Geben Sie mir mehr.«
    »Mehr hab ich nicht, verdammt noch mal.«
    »Dann das Handy.«
    Ollie seufzt und sieht Julius an, immer noch irgendwie verärgert – noch nicht einmal jetzt, denkt Julius halb unbewusst, noch nicht einmal mit dem Messer werde ich respektiert. Er packt Ollies Handgelenk noch fester. Ollies Blick zuckt zwischen dem Messer und seinem weiß werdenden Handgelenk hin und her. Schließlich gibt er nach, weil ihm einfällt, dass vor ein paar Jahren auf diesem Bahnhof ein Rechtsanwalt von einem Vierzehnjährigen umgebracht worden ist. Er greift mit der freien Hand hinüber in die andere Hosentasche und fischt seinen BlackBerry heraus. Julius nimmt ihn und umklammert ihn zitternd. Sie sehen sich einen kurzen Moment in die Augen, dann lässt er Ollie los und rennt zum anderen Ausgang, in langen, schwerfälligen Schritten, und seine Augen treten aus den Höhlen wie bei einer Comicfigur.
    »Ich hetz dir die Bullen auf den Hals, du fettes Schwein!«, ruft Ollie ihm nach.
    Wie ein Gepäckwagen, der sich selbstständig gemacht hat, poltert Julius die neunzehn Stufen zur Bahnhofshalle hinab und an den menschenleeren Fahrkartenschaltern vorbei ins Freie. In einer Kurzschlusshandlung wirft er das Messer in ein struppiges Gebüsch neben dem Taxistand und bereut es sofort. Das Grün ist kaum dicht genug, um das Messer zu verbergen, bei Tageslicht ist es wahrscheinlich sichtbar, und sie werden es rausholen, die Fingerabdrücke nehmen und irgendwie alle überprüfen. Keuchend und schweißgebadet taumelt Julius nach Hause und traut sich nicht, stehen zu bleiben. Ausnahmsweise bemerkt er einmal kaum die verdutzten oder belustigten Blicke der flanierenden Pärchen, an denen er vorbeihastet. Die zerknüllten Geldscheine rascheln in seiner Tasche. Er fühlt sich, als hätte noch nie jemand etwas so Schlechtes getan wie er gerade.

V Drei Nächte darauf, während Xavier und Murray ihre Wochentagshörer unterhalten, flattert Julius zwischen schlaflosem Herumwälzen und unruhigen Träumen, in denen er verhört oder verfolgt wird. Den BlackBerry hat er gegen hundert Pfund eingetauscht, in einem Laden in Kilburn, wo ein fröhlicher Handel mit bestimmt gestohlenen Sachen floriert, jedenfalls haben sie ihn nichts gefragt. Zusammen mit Ollies Bargeld reicht das für ein, zwei, drei weitere Monate im Fitnessstudio, wodurch er Zeit gewinnt, um sich einen Job zu suchen. Jedes Mal, wenn ein Lehrer ihn direkt ansieht oder wenn er an einem Polizisten vorbeigeht, rechnet Julius damit, mit Beweisen für seine Tat am Wochenende konfrontiert zu werden. Im

Weitere Kostenlose Bücher