Elf Leben
Schlaf murmelt er zusammenhanglose, nervöse Sätze und schlägt mit den Armen um sich, als wollte er Angreifer abwehren.
»Und bei uns geht’s gleich … weiter mit Nachrichten aus aller Welt«, sagt Murray.
Eine von Murrays Strategien, das W-Problem in den Griff zu bekommen, besteht darin, vor dem Kummerkonsonanten eine kurze Pause zu machen, tief Luft zu holen und dann in einem Rutsch mit dem W und den nachfolgenden Silben durchzupreschen. Seine Sätze bekommen dadurch manchmal einen eigenartigen Rhythmus, wie die holprigen Phrasen, die Computerstimmen aus aufgenommenen Versatzstücken zusammensetzen, aber es ist besser – alles ist besser – als dieses quälende Stocken.
»Als nächstes hört ihr, wie unser geschätztes Staatsoberhaupt diese Woche den amerikanischen Präsidenten trifft. Ich habe mal versucht, mir die Szene im W-, im W-«
»Im White House«, wirft Xavier hilfreich ein.
»Genau, mir die Szene im White House vorzustellen.« Murrays Lockenkopf wippt auf und ab. Diesen Teil der Sendung mag er am liebsten. »Sie könnte sich so abspielen …«
Xavier sieht hinaus auf den Parkplatz, während Murray wenig überzeugend einen gedehnten amerikanischen Akzent nachahmt. Hinter den Recyclingcontainern taucht die dünne Silhouette des Fuchses auf. Murray wäre letzte Woche fast auf ihn getreten, als sie das Studio verließen; er ist in Gegenwart von Menschen mittlerweile so gelassen, dass er nicht weghuschte, sondern die beiden kühl und verächtlich aus seinen schwarzen Kieselaugen ansah.
Jenseits der Grenze von Xaviers Blick hat das nächtliche London, das Schatten-London, seine Schicht zur Hälfte hinter sich.
Xaviers Nachbarn in der Bayham Road schlafen, auch wenn Jamie um sechs Uhr morgens aufwachen und sich gegen alle Versuche der schläfrigen Mel wehren wird, noch ein Stündchen Ruhe herauszuhandeln. Auch die Psychotherapeutin Maggie Reiss schläft, neben ihrem Mann, einem Börsenmakler; sie wurde die ganze Woche noch nicht von Magen-Darm-Problemen geplagt. Ein paar Postleitzahlenbereiche weiter hat Frankie Carstairs immer noch eine auffällige Narbe auf der Wange, die den Ärzten zufolge verblassen wird. Die schonungslose Kritik des Chico’s hat seiner Mutter Lob von ihrem Chefredakteur eingebracht, der stets erfreut ist, wenn ein so unbedeutendes Ressort wie die Gastro-Seiten für Kontroversen sorgt. Ollie Harper schläft neben seiner Frau Nicola, die im vierten Monat schwanger ist. Er hat ihr nichts von dem Überfall erzählt – warum aus allem ein Drama machen; der Arzt hat gesagt, sie solle Stress meiden. Am Montag hat er sich ein Übergangshandy besorgt, Ersatz für seinen BlackBerry bekommt er erst in einer Woche. Das junge Paar hat ein Gebot für die Wohnung abgegeben, das sich die beiden ziemlich sicher nicht leisten können.
Murray holpert zum Ende seines Sketches über die Staatschefs der Welt und beginnt mit seiner zweiten parodistischen Einlage, über ein somalisches Piratenschiff, das gerade in den Schlagzeilen ist, weil es irgendwo im Indischen Ozean die Besatzung eines anderen Schiffes als Geiseln genommen hat. Xavier ringt sich hin und wieder ein ermunterndes Glucksen oder Schnauben ab und sehnt die Kurznachrichten der Agentur mit ihrer präzisen, nicht verhandelbaren Anfangszeit herbei, die diesem peinlichen humoristischen Intermezzo ein Ende bereiten werden.
Julius’ Lehrer Clive Donald steht im Garten hinter seinem Haus in Hertfordshire und starrt geistesabwesend auf die düsteren, kahlen Bäume im Mondlicht, die ihn an Arme erinnern, die durch den Boden greifen und die Finger nach dem Himmel ausstrecken. Vor ein paar Stunden hat er eine Schlaftablette genommen, die nicht gewirkt hat. Ebenfalls unter Medikamenteneinfluss fliegt Andrew Ryan, der Restaurantbesitzer, hoch über London; er kommt gerade aus Hongkong, wo er einige tausend Pfund beim Pferderennen verloren hat. Sein Sitz lässt sich so weit zurücklegen, dass er zum Bett wird, und kann mit einem Vorhang vom Rest der Kabine abgeschirmt werden, aber von diesen Annehmlichkeiten merkt Ryan nichts, der sich vor dem Start mit zwei Tabletten betäubt hat. Ohne das Wissen von irgendeinem der Passagiere liegt im Frachtraum der Maschine die Leiche eines ehemals hochrangigen Regierungsangestellten, der letzte Woche an einem Schlaganfall starb. Unterdessen ruht George Weir friedlich auf dem Golders Green Cemetery. Seine Tochter, eine auf Verkehrssicherheit spezialisierte städtische Angestellte, hat am Wochenende
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