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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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nicht. Wenn ich das nicht mache, sehe ich ruck zuck aus wie eine Tonne. Mein Körper war so an das Training gewöhnt, und wenn man dann aufhört, geht man auseinander wie ein Hefekloß. Früher bin ich jeden Tag gelaufen.«
    »Wirklich?«
    »Na ja, musste ich ja, hast du gewusst, dass ich zu den besten Nachwuchssportlern im Land gehört habe?«
    Woher sollte ich denn das wissen?, denkt Xavier amüsiert.
    »Nachwuchssportlern?«
    »Ich war Diskuswerferin. Kennst du Diskuswurf?« Die Teetasse noch in einer Hand, beschreibt sie mit dem rechten Arm einen ausladenden Bogen und wirft einen unsichtbaren Gegenstand über die Schulter.
    »Ja, schon, aber – na ja, ich hab noch nie jemanden kennengelernt, der –«
    »Es war das einzige, was ich tun wollte. Ich war als Schülerin Stadtmeisterin von Newcastle upon Tyne. Ich war in der britischen U18-Auswahl. Vor ein paar Jahren war ich für Olympia im Gespräch.« Sie zählt diese Ehren an ihren kräftigen Fingern ab, als wären sie allesamt Gegenargumente zu etwas, das Xavier gesagt hat. »Meine beste Weite waren mal einundsechzig Meter. Der britische Rekord für Frauen liegt bei siebenundsechzig. Aber fast alle Rekorde für so Sachen wie Diskuswurf sind in den Achtzigern gebrochen worden, und jetzt stinken sie, weil jeder weiß, dass die Sportler damals alle gedopt waren bis zum Gehtnichtmehr.«
    Endlich holt sie kurz Luft.
    »Und was, äh, was ist passiert?«
    »Vor sechs Jahren war ich zweiundzwanzig. Ich weiß, ich sehe eher aus wie vierzig, aber so sieht man halt aus, wenn man den ganzen Tag Klos putzt. Egal. Jedenfalls stand ich kurz vor einer Sportlerkarriere, und dann haben sich meine Knie verabschiedet. Arthritis. Ich weiß noch, wie ich beim Arzt in der Sprechstunde saß. Sie haben Arthritis, hat er gesagt. Und ich hab gesagt, ganz ehrlich, gibt es irgendeine Möglichkeit, dass ich weiter an Wettkämpfen teilnehmen kann? Da hat er meine Hände genommen und gesagt, Pippa, wenn Sie das tun, sitzen Sie mit dreißig im Rollstuhl. Wir saßen da, und ich hab angefangen zu heulen. Das war das einzige Mal, dass ich vor jemandem geweint habe, den ich nicht richtig kenne.«
    Xavier, der nicht so recht weiß, was er sagen soll, sieht hinunter auf ihre Knie.
    »Du musstest also aufhören und … wieder bei Null anfangen?«
    Pippa lächelt.
    »Jep. Ich hatte ja kaum irgendwelche Qualifikationen. Ich hatte alles in den Sport gesteckt. Ich hab saumiserabel verdient, entschuldige bitte meine Ausdrucksweise, ach so, nee, das hatten wir ja schon geklärt. Na jedenfalls, bevor man nicht ganz oben angekommen ist, verdient man im Sport saumiserabel, vor allem wenn man nur an Feld-Wald-und-Wiesen-Wettkämpfen teilnimmt. Das bisschen, was ich hatte, hab ich meiner Schwester geliehen, weil dieser Typ, der hat sie einfach sitzengelassen – dem würd ich die Eier abschneiden, wenn der mir heute über den Weg laufen würde –, und sie konnte mir das Geld nie zurückzahlen. Ich war total abgebrannt. Da hab ich die ersten Putzjobs angenommen. Meine Schwester und ich, wir wollten eigentlich wieder hoch nach Newcastle ziehen, aber dann hatte ich die ersten festen Kunden hier in London, hier kann man mehr Geld nehmen, deshalb wohnen wir beide hier, uns steht zwar die Scheiße finanziell bis zum Hals, aber ich sag mir immer, wenn ich nur Putzfrau sein kann, dann werd ich eben eine verdammt gute Putzfrau.«
    Sie beginnt heftig zu husten, als hätte ihr Redeschwall ihre Stimmbänder schließlich überwältigt.
    »Du bist eine verdammt gute Putzfrau«, sagt Xavier.
    »Danke«, sagt sie und wird ein bisschen rot; das Kompliment macht sie für einen Moment verlegen. Dann stellt sie ihre leere Tasse energisch ab und steht auf. »Für einen Australier war der Tee gar nicht übel.«
    »Ich bin in England geboren«, sagt Xavier. »Beim nächsten Mal ist der Wasserkocher schon an, wenn du kommst.«
    »Dann bring ich Plätzchen mit«, sagt Pippa. »Und jetzt wieder an die Arbeit. Du bezahlst mich ja nicht dafür, dass ich auf dem Arsch sitze und immer dicker werde.«
    Sie geht zur Tür.
    »Wenn ich Untertassen sehe, juckt es mir heute noch in den Fingern, und ich krieg Lust, sie vierzig Meter weit weg zu schmeißen.«
    Xavier lacht und lässt sich von ihr aus dem Zimmer führen. Er blickt flüchtig auf ihren muskulösen Rücken und stellt sie sich für einen Augenblick in ärmellosem Trikot und Shorts vor, an einem ungemütlichen Nachmittag wie diesem irgendwo auf einem zugigen Feld im Nordosten, wie

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