Elf Leben
bin ja nicht blöd. Ich dachte schon beim ersten Mal, die Stimme kennst du irgendwoher, aber ich konnte sie nicht einordnen.«
Xavier steht vom Sofa auf, und sein Kopf brummt vom Wein.
Pippa redet immer noch.
»Ich glaube es nicht! Meine Schwester fällt tot um vor Neid!«
»Was? Warum?«
»Ja wie, warum? Du bist berühmt!«
»Ich bin nicht berühmt.«
»Du bist im Radio.«
Xaviers Herz schlägt zu schnell. Er fühlt sich schrecklich unwohl.
»Ist das der Grund, weshalb du – das hier wolltest?«
Die Bemerkung verklingt hässlich zwischen ihnen im Raum.
Pippa sieht ihn an, beleidigt.
»Ist das dein Ernst?«
Xavier bringt keinen Ton heraus. Pippa zieht sich energisch ihren gestreiften Pulli über den Kopf, klopft sich imaginären Staub von den Jeans und greift nach ihren Schuhen.
»Das sollte nicht heißen …«
»Schon gut. Ich muss los. Danke für das Essen.«
»Dann lass mich – lass mich dir wenigstens ein Taxi rufen. Es ist schon spät.« Xavier sucht sein Telefon.
»Sei nicht albern.«
Pippa drängt sich an ihm vorbei durch die Tür, wo die beiden für eine Sekunde dieselbe spannungsgeladene Luft atmen, bevor sie weitergeht und dabei ihre Jeans hochzieht. Aus dem Arbeitszimmer, wo wie ein Wachposten der blau-gelbe Wäschesack gewartet hat, hört Xavier das unheilvoll entschlossene ›Zipp‹ des Reißverschlusses.
Xavier versucht, sich zu beruhigen, geht ihr hinterher.
»Ich hab dich noch nicht mal bezahlt.«
»Meinst du, du musst mich bezahlen?«
»Na ja … du hast doch das Bad gemacht und alles, während ich das Essen geholt habe. Du hast gearbeitet.«
»Ich habe gearbeitet, ja, aber dann wurde ja wohl etwas anderes daraus.« Sie sagt das jetzt ohne Bitterkeit, nur mit einer leisen Enttäuschung in der Stimme. »Vergiss es.«
Er streckt die Hände aus und sie umarmen sich, aber plötzlich so steif wie zwei entfernte Verwandte nach einem anstrengenden Familientreffen. Wie nach dem kurzen Rendezvous mit Gemma vor ein paar Wochen ist Xavier ganz schwindelig davon, wie dicht die beiden Pole von freudiger Intimität und leichtem Ekel beieinander liegen, und wie leicht man binnen Sekunden von einem zum anderen gelangt.
Er bringt sie hinaus zur Treppe, und die Stimmung zwischen ihnen ist immer noch ambivalent, mit mehr offenen Fragen als Antworten. Doch als sie halb zur Tür hinaus sind, werden sie von einem weiteren Geräusch aus Tamaras Wohnung über ihnen aufgeschreckt – einem Krachen von Holz, als wäre ein Schreibtisch umgestoßen worden, und dann folgt noch mehr: gedämpfte, zornige Stimmen, dumpfe Schläge, eine Art Wimmern, hektische Schritte, dann nichts mehr. Sie halten den Atem an, warten darauf, dass jemand herunterkommt oder noch irgendetwas folgt, aber nichts geschieht. Sie sehen sich an. Xavier spürt, wie er Farbe bekommt, und meidet Pippas Blick.
Pippa braucht nichts zu sagen, aber wie üblich sagt sie doch etwas.
»Du hast sicher nicht nachgeforscht, was da oben los ist, oder?«
»Nein«, sagt Xavier, »hab ich nicht, und ich hab auch der Frau unter mir nicht geholfen, ich hab gar nichts gemacht. Du hast recht, ich bin egoistisch.«
»Ich hab nichts davon, wenn du sagst, du bist egoistisch, ich frage mich bloß, wie du solche Sachen einfach so laufen lassen kannst, ohne etwas zu unternehmen.«
»Das hat eigentlich nichts mit dir zu tun, Pippa.«
»Ich weiß, Xavier.« Die Namen klingen eisig. »Nur, ich … ach, vergiss es.«
»Doch, los, sag es.«
»Na ja, ich finde es halt ein bisschen komisch, dass du da in deiner Sendung die ganzen tollen Ratschläge gibst und ach so verständnisvoll und hilfsbereit bist und man sich immer bei dir ausheulen kann und alles, und dann im richtigen Leben, da schaust du immer nur weg.«
»Du weißt doch gar nichts über mich.« Wie kam es eigentlich so weit, zu dieser sinnlosen Streiterei?, fragt sich Xavier hilflos.
»Ich hab ja nicht behauptet, dass ich eine Expertin bin.« Pippas Dialekt, überzogen durch die steigende Hitze des Gesprächs, krallt sich verbissen an das Wort.
Sie wird von einer schnellen Folge ungestümer Gefühle erfasst: Empörung, weil mit ihr geredet wird wie mit einem Groupie, Verlegenheit darüber, wie immer zu viel gesagt und sich bloßgestellt zu haben, und müder Ärger, weil sich immer alles um Wendy drehen muss oder um ihre Mum, jedenfalls nicht um sie, Pippa. Und zwischen all das sickert eine träge, klebrige Verachtung für diesen Mann, der da in seinem Radiostudio sitzt, Ratschläge
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