Elf Leben
schweigt.
Roland entschuldigt sich.
»Er ist halt einfach nicht sehr … sieh mal, Xavier, ich mag Murray unheimlich gern, genau wie du, er ist ein toller Typ, aber er ist halt einfach nicht … nicht gerade der geborene Moderator.«
»Er wird dich nicht enttäuschen. Gib ihm eine Chance. Morgen bin ich wieder da.«
Widerstrebend willigt Roland ein. Murray ist dankbar und aufgekratzt. Er schickt Xavier per SMS eine Idee, wie er seine Abwesenheit erklären könnte, irgendein Blödsinn von einer angeblichen Entführung, die sich als Running Gag durch die ganze Sendung ziehen soll, aber Xavier rät ihm davon ab. Während der Nachmittag in einen klaren Abend übergeht, schickt Murray noch vier oder fünf weitere SMS mit Ideen. Jedes Mal, wenn Xavier aus dem zeit- und gestaltlosen Nebel auftaucht, in dem er die Stunden zwischen fünf und zehn Uhr verbringt, antwortet er hilfsbereit.
Um die Zeit, wo er normalerweise die letzten Vorbereitungen für die Sendung treffen würde, zu Abend essen zum Beispiel und darauf warten, dass Murray ihn abholt, zieht sich Xavier, jetzt weniger groggy, eine Jacke über und geht ohne ein bestimmtes Ziel aus dem Haus.
Drei Minuten von der Bayham Road Nr. 11 entfernt führen ein paar Stufen, die von der Straße aus halb von Gestrüpp verdeckt sind, auf einen langen Waldstreifen. Der Weg durch den Wald erstreckt sich anderthalb Meilen bis nach Highgate und noch weiter. Er gehört zu einem wenig bekannten grünen Ring, der quer durch die Stadt verläuft, hinter und zwischen Wohnhäusern entlang, über Brücken und an Hauptstraßen vorbei, ein paralleles London voller Hundebesitzer, Jogger, Radfahrer und Kleinkrimineller. Normalerweise würde Xavier es sich zweimal überlegen, nachts hier herumzuspazieren, aber im Moment überlegt er sich nichts auch nur einmal.
Xavier geht. Es ist eine milde Nacht, und über den Bäumen hängt ein großer Mond. Dort, wo sein Licht nicht mehr hin reicht, raschelt es im Unterholz, wenn Tiere vor Xaviers einsamen Schritten davonhuschen. Erst jetzt, in diesem Moment, wird ihm bewusst, dass er jahrelang eine Flut von Erinnerungen zurückgehalten hat, mit einer Willenskraft, von der er kaum etwas ahnte. Während er auf dem schlammigen, mit Brennnesseln übersäten Weg in das Dunkel geht, steigen die Erinnerungen allmählich in ihm auf.
Er geht denselben Weg zurück und kommt Viertel vor drei nach Hause. Die Sendung geht in die Schlussphase, aber Xavier verspürt kein Bedürfnis einzuschalten und zu hören, wie es läuft. Er stellt den Wasserkocher an und gießt sich in einer wie neu aussehenden Tasse einen Tee auf. Auf seinem Stuhl im Arbeitszimmer, im Licht einer einzelnen, an die Wand gerichteten Lampe, erlaubt sich Xavier, die Erinnerung an den 11. Juli 2003 aus der Gruft hervorzuholen.
Becs und Russells lang gehegter Wunsch nach einem Baby wollte einfach nicht in Erfüllung gehen, so lange, bis aus dem Traum eine unüberwindliche Hürde zu werden schien, und natürlich wurde es umso schlimmer, je gespannter alle auf Neuigkeiten warteten. Als weithin bekannt war, dass sie es schon seit drei Jahren erfolglos versuchten, wurde es ein heikles Thema. Immer öfter wandte sich die sonst so unerschütterliche Bec an Chris und vertraute ihm ihre Sorgen an.
»Und wenn es bei uns einfach nicht funktioniert? Was ist, wenn irgendwas nicht stimmt, Chris?«
»Na ja, aber ihr habt euch doch untersuchen lassen, oder?«
»Ja, schon. Sie finden zwar nichts. Aber bei manchen, da klappt es halt einfach nie …«
Chris sagte nicht: »Ihr habt doch noch Zeit« oder »Du bist ja erst siebenundzwanzig« oder all die anderen unpassenden Dinge, die die Leute in bester Absicht sagten. Er drückte ihr die Hand und riet ihr, es weiter zu versuchen und sich nicht verrückt zu machen. Auf Partys sorgte er dafür, dass keine Witze mehr gemacht wurden, und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Die Viererbande rückte enger zusammen.
Als Bec schließlich im York Minster ihre Schwangerschaft bekannt gab, entfachte die kollektive Erleichterung eine Euphorie, die sechs Monate anhielt. Es gab wieder Witze: neue Witze darüber, was wäre, wenn das Baby hässlich oder ein Serienmörder würde; sie machten alberne Namensvorschläge und kauften in Antiquariaten gleichermaßen gruselige wie komische Erziehungsratgeber aus den Fünfzigern. Es verstand sich von selbst, dass Chris und Matilda Paten und, im Grunde, Onkel und Tante werden würden. Es fühlte sich allmählich so an, sagte
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