Elf Leben
erteilt und dann in seine hübsche Wohnung zurückkommt, der es sich leisten kann, jemanden zu bezahlen, damit er ihm das Bett macht und Reiniger in sein verdammtes Klo schüttet, und der todsicher keinen Schimmer hat, wie es sich wirklich anfühlt, die Art von Problemen zu haben, zu denen er den Leuten neunmalkluge Ratschläge erteilt. Oder die Art von Problemen, die Pippa hat: jeden Pence zweimal umdrehen zu müssen, fünfzig Leute am Tag anzurufen und zu fragen, ob sie eine Putzfrau brauchen, die Schwester aufzubauen, die Mutter zu beruhigen und irgendwann angezogen aufs Bett zu fallen und einzuschlafen.
»Ich finde es bloß ein bisschen bequem , im Radio immer zu erzählen, wie gut es ist, über alles zu reden, was einen bewegt und so, sich selbst dann aber –«
»Ich hab dir gesagt, ich will mich nicht einmischen, weil–«
»Ja, weil du glaubst, es geht schon alles seinen Gang. Wie gesagt, das ist schön bequem.«
»Ich will dir mal was sagen!«
Xavier erkennt sich selbst nicht wieder, er könnte diese Szene genauso gut von irgendwo außerhalb seines Körpers beobachten. Er drängt Pippa in eine Ecke und zeigt mit dem Finger auf sie; er zittert leicht.
»Jetzt sag ich dir was! Früher hab ich mich in alles eingemischt, in jeden Scheiß, verdammt noch mal! Und alles ist schiefgegangen, alles!«
Diesen melodramatischen Worten folgt eine lange Stille; ein anderer Effekt war kaum zu erwarten gewesen. Xavier weiß, dass sie ihn unten sicher gehört haben, womöglich hat er Jamie geweckt. Er versucht, seine Stimme zu zügeln, aber sie taumelt auf und ab wie ein Drache, der im Wind herumgeworfen wird.
»Also komm nicht hierher und erzähl mir, ich soll durch die Gegend laufen und Gutes tun. Denn glaub mir, je weniger ich mit irgendwas zu tun habe, desto besser.«
»Ich werde überhaupt nicht kommen und dir irgendwas erzählen«, erwidert Pippa leise.
Entsetzt über sich selbst sieht Xavier zu, wie sie geht. Er glaubt immer noch, dass sie vielleicht zurückkommt, dass sie dieses furchtbare, verfahrene Gespräch wieder einrenken können, aber nach einer kurzen Pause, die Hoffnung aufkeimen lässt, fällt unten die Haustür ins Schloss.
In einem der Schränke, die Pippa neu geordnet hat, findet Xavier eine längst vergessene Flasche Wodka und setzt sich damit aufs Sofa vor den Fernseher. Er trinkt direkt aus der Flasche und zieht eine grimmige Freude aus den drei Sekunden zwischen dem Schlucken und dem Brennen im Hals. Auf dem Tisch liegen die Schachteln vom China-Imbiss, und im Zimmer riecht es noch nach Pippa. Er geht ins Schlafzimmer und überlässt die Spätnachrichten mit ihren atemlosen Meldungen sich selbst: MÄDCHEN UNTER UNMENSCHLICHEN BEDINGUNGEN GEFANGEN GEHALTEN , EMIRATES - MASCHINE MUSS NOTLANDEN . Er trinkt, bis er fast glauben kann, dass der Abend prima gelaufen ist, und tröstet sich mit dem Gedanken, dass er nicht beim erstbesten Anlass seinen Schwur gebrochen hat, niemals über das zu sprechen, was mit Michael passiert ist, und dann trinkt er noch etwas mehr, bis sich sein breiweiches Hirn fast überreden lässt, ihm zu bestätigen, dass es nie geschehen ist, dass sein Leben noch dasselbe ist wie vor sechs Jahren. Dass noch alles möglich ist.
VII Am nächsten Tag schläft Xavier bis drei Uhr nachmittags, jedenfalls liegt er so lange im Bett. Jedes Mal, wenn er das Bewusstsein erlangt, will er es schnell wieder verlieren. Er hört oder spürt, wie der Tag vorbeigeht, wie Musik, die ein paar Zimmer weiter spielt: das Kreischen von Jamie, als Mel mit ihm irgendwohin geht, Schritte auf der Treppe um die Mittagszeit und dann die unverwechselbare, drückende Sonntagnachmittagsstille draußen. Der Verkehr auf der Bayham Road ist nur ein Rinnsaal von Autos, die Pärchen zum Mittagessen in den Pub oder Familien zu den ersten Picknicks in der lange ersehnten Sonne bringen.
Schließlich setzt er sich auf, wirft die Decke zurück und beginnt, über die Ereignisse des Vorabends nachzudenken. Ich habe alles versaut, denkt Xavier. Für einen kurzen Moment möchte er am liebsten Matilda anrufen, oder Bec und Russell, einfach nur, um eine ihrer vertrauten Stimmen zu hören, selbst wenn sie nur beschreiben würden, was sie um sich herum sehen oder was sie gerade machen wollten. Aber in Australien ist es Nacht. Matilda tanzt mit ihrem Verlobten in Kings Cross, Sydney. Bec und Russell, fix und fertig wie immer, schlafen.
Versuchsweise macht er ein paar Schritte Richtung Bad, aber er fühlt sich, als
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