Elf Leben
irgend so ein Typ hatte nichts Besseres zu tun, als ihr eins zu machen.« Sie lächelt wehmütig. »So oder so, das ist … na ja, nicht gerade ein Grund zum Jubeln.«
Sie legt eine Hand über die Augen, und für einen Moment denkt Xavier beunruhigt, sie würde gleich anfangen zu weinen, wie wenig das auch zu ihr zu passen scheint; aber sie fährt sich nur durchs Gesicht, in einer einzigen erschöpften Bewegung von den Augen bis unters Kinn.
»Mir fällt gleich das Gesicht runter, so müde bin ich.«
»Was macht sie jetzt mit dem … dem Baby?«
Pippa schüttelt hoffnungslos den Kopf.
»Sie kann es nicht behalten. Wie gesagt, uns steht die Scheiße bis zum Hals.«
»Sie wird es also …?« Xavier macht eine unbeholfene Handbewegung.
»Da kennst du meine Schwester schlecht. Sie würde durchdrehen, wenn sie’s wegmachen lassen würde. Vor Schuldgefühlen oder wegen der OP selber oder weiß der Geier. Sie ist viel empfindlicher als ich.« Entsprechend unzimperlich verfährt ihr Dialekt mit dem Wort empfindlich und verschluckt kurzerhand das wehrlose ›d‹.
»Das heißt …«
»Das heißt, ich hab keine Ahnung, was ich machen soll.«
»Na ja, ich will ja nicht zu hart sein, aber sie hat sich doch in diese Lage gebracht. Nicht du.«
Pippa zuckt mit den Schultern und massiert sich das Handgelenk.
»Wenn sie ein Problem hat, hab ich genauso eins. Sie ist meine Schwester.«
Zum ersten Mal seit Monaten denkt Xavier an seine älteren Brüder Rick und Steve. Sie waren immer gerade ein bisschen zu alt für Chris, sie hatten ihre eingespielten Witze, zehn Jahre bevor er auf der Bildfläche erschien, und sie hatten ihre Kricketspiele, für die er noch zu klein war. Beide haben seinen einundzwanzigsten Geburtstag vergessen.
Xavier tätschelt Pippa das Knie, und ihn überkommt ein unerwartetes Gefühl für sie, irgendetwas zwischen Besorgnis und freudiger Erregung.
»Hast du schon gegessen?«
Sie reibt sich die Augen und sieht ihn argwöhnisch an.
»Nein, also, nicht so richtig.«
»Willst du – ich könnte uns irgendwo was holen.«
Pippa bläst sich eine weißblonde Haarsträhne aus dem Auge, und ihre Wangen erröten leicht. Für einen Moment findet Xavier, dass sie aussieht wie ein Kind.
»Wirklich?«
»Ja, warum nicht?«
»Weil ich zum Saubermachen hier bin, beruflich.« Sie beißt sich auf die Lippe und verzieht ein aufkommendes Grinsen. »Und nicht, um mich vollzustopfen.«
»Du brauchst dich ja nicht vollzustopfen. Du kannst gesittet essen, wenn du willst.«
Diesmal lacht sie laut auf.
»Seh ich so aus, als ob ich das könnte?«
Xavier fischt in seiner Tasche und fühlt erleichtert ein weiches Bündel Scheine. »Magst du chinesisch?«
»Chinesisch wäre super. Ich putz dann übrigens noch genauso viel.« Ihr Gesicht ist plötzlich wieder ernst. »Ich mach dafür nachher mehr.«
»Sei doch nicht albern. Entspann dich zur Abwechslung einfach mal, und wir essen was zusammen.«
Pippa will gerade protestieren, da grummelt empört ihr Magen. Wieder steigt ihr die Röte ins Gesicht, und ihre Sommersprossen geraten ins Schwimmen.
Xavier lacht.
»Siehst du? Du kannst gar nichts dagegen sagen. Ich bin in zwanzig Minuten wieder da.« Er schnappt sich sein Schlüsselbund. »Bleib, wo du bist, und komm nicht auf die Idee, irgendwas sauberzumachen.«
Als Xavier die Bayham Road wieder hinuntergeht, mit zwei Plastiktüten vom China-Imbiss, wo das Personal ausdruckslos auf einen kleinen Fernseher oben an der Wand gestarrt hat, fragt er sich, was er da eigentlich tut. Vor den Straßenlaternen strömt Neonregen hinab. Er geht in den Laden des Inders – »Schön, Sie noch einmal hier sehen, Sir«, sagt der Brautvater in spe – und kommt mit einer Flasche Wein wieder heraus. Auf halbem Weg zurück fällt ihm ein, dass in der Küche schon eine steht.
Er fragt sich, ob Pippa wohl den Tisch gedeckt hat, vielleicht sogar Kerzen angezündet oder so etwas, und plötzlich spürt er ein Ziehen in der Brust. War er denn bescheuert, sie im Grunde genommen zum Abendessen einzuladen? Nein, ich habe sie ja gar nicht zum Essen eingeladen, hält Xavier seiner innerlichen Kritik entgegen, sie war sowieso schon hier, und ich hab uns was geholt, weil sie offensichtlich hungrig und geschafft ist, und es ist ein Essen vom Chinesen in einer Plastiktüte, Herrgott noch mal. Als er zurückkommt, hat Pippa jedenfalls keinerlei Vorbereitungen getroffen. Sie hockt auf allen Vieren im Bad, sprüht das Waschbecken ein und gibt
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