Elf Leben
ihm mit dem Lappen eins um die Ohren. Der Toilette hat sie bereits reichlich Reiniger verabreicht, und die Badewanne schimmert in einem Weiß, das vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen wäre.
»Ich hab das Schlafzimmer gemacht und schon mal mit dem Arbeitszimmer angefangen, und die Küche mach ich dann, wenn wir gegessen haben und so«, sagt sie, als Xavier auftaucht und sie im Badezimmerspiegel ansieht. Ihr gestreifter Pullover ist ihr über die Schultern gerutscht.
Schnell schaut er wieder auf die glänzenden Armaturen.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst eine Pause machen.«
»Das ist eine Pause. Ich mach doch kaum was.«
Sie setzen sich an Xaviers kleinen Esstisch, essen Hühnchen in widerlichen Soßen und totgekochtes Gemüse, direkt aus den Styroporschachteln. Sie reden nicht; Pippa isst, als wäre sie gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, denkt Xavier. Sie schaufelt sich eine Gabelladung nach der anderen in den Mund, bricht Krabbenchips in zwei Hälften und stippt damit die Reste auf.
Als Xavier nichts mehr hineinbekommt – vor ihm auf dem Teller türmt sich immer noch ein halber Reisberg –, sieht sie ihn an wie einen Scrabble-Gegner, dem ein schier unfassbarer Taktikfehler unterlaufen ist.
»Isst du den Rest da nicht?«
»Ich kann nicht mehr.«
»Also, ich kann noch.« Sie zieht seinen Teller über den Tisch zu sich heran.
Xavier schenkt Wein ein.
»Trinkst du Wein?«
»Klar. Ich trinke alles.«
Sie hält inne, eine Gabel Reis auf halbem Weg zum Mund, und sieht zu, wie Xavier ihr Glas füllt.
»Seh ich sehr schlimm aus?«
»Was meinst du?«
»Na ja, ich komm einfach zu dir und – ich hab dir gesagt, ich stopfe mich voll. Leg mich ins Essen wie ein absolutes Ferkel und kippe deinen Wein runter …«
»Das hast du ja noch nicht gemacht.«
»Aber gegessen hab ich wie ein Ferkel, oder was?«
Xavier gluckst.
»Nein, natürlich nicht. Nur wie jemand, der echt hungrig ist.«
»Morgen seh ich aus wie eine Tonne.«
»Schauen wir mal. Ich glaube, du siehst morgen immer noch aus wie eine normale Frau.« Wie affig von mir, denkt er, ich rede ja schon wie im Radio.
»Normale Frauen haben aber nicht solche Titten.«
»Vielleicht nicht, aber weißt du, die durchschnittliche Kleidergröße ist 44.«
»Wer will schon Durchschnitt sein?«
»Okay, verstanden.« Xavier gießt die Gläser noch einmal voll.
»Woher hast du eigentlich so viel Ahnung von Kleidergrößen?«
»Ich bin Schneider«, sagt Xavier, und aus irgendeinem Grund finden sie das beide sehr lustig.
Im Nachhinein wird Xavier nicht mehr sagen können, ob es eine bewusste Entscheidung war, die zweite Flasche Wein zu öffnen, wer sie geholt und entkorkt hat; nicht, dass der Alkohol die Erinnerung auslöschen würde – so betrunken werden sie beide nicht –, aber er erzählt seine eigene Geschichte, scheint den Abend an den Rändern zu ölen, sodass die Szenen sanft ineinander übergleiten. Die beiden sitzen nebeneinander auf dem Sofa, wie Zwölftklässler. Nein, eigentlich nicht wie Zwölftklässler, denkt Xavier, Zwölftklässler würden es einfach tun. Was auch immer »es« ist.
Pippa beugt sich zu ihm hinüber und berührt mit dem Finger seine Lippen.
»Mach mal so.«
»Was?«
»Du hast überall Wein an den Lippen.«
Xavier tut, wie ihm geheißen, und zuckt kurz zusammen, als er an Murray denkt, der auf Partys immer mit Weinspuren am Mund herumläuft. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fällt ihm die Party von Murrays Schwester wieder ein – Murray wird jetzt dort sein, und er hat ganz sicher eine SMS geschrieben. Xavier weiß noch nicht einmal, wo sein Handy ist, wahrscheinlich irgendwo in den Tiefen des Sofas, hinter den Kissen. Murray wird wohl allein klarkommen müssen.
»Alles in Ordnung mit dir, Schätzchen?«
»Ja, ich hab bloß mein Handy gesucht. Aber ich, äh, ich will es eigentlich gar nicht finden.«
»Geht mir genauso, ich hab mich mehr oder weniger freiwillig von meinem getrennt.« Pippa verzieht das Gesicht. »Ich hab keine Lust, dass mich meine Schwester schon wieder nervt, wann ich nach Hause komme.«
»Was hast du ihr denn gesagt, als du gegangen bist?«
»Ich hab ihr gesagt, mal sehen, was passiert.«
»Und, was passiert?«
Pippas Wimpern flattern.
Der erste Kuss ist kurz und zaghaft, der zweite forschend und der dritte lang, so lang, dass sie, als sie schließlich auseinandergehen, für einen Moment desorientiert aussehen, wie Schwimmer nach dem Auftauchen.
Nach einer
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