Elfenblut
fliehen versuchtet. Und danach würde Istvan Euch bis zum Frühjahr in den Kerker werfen.«
Fliehen? Warum überraschte es sie eigentlich nicht, dass Lasar ausgerechnet dieses Wort benutzte? »Ich dachte, jeder könnte hier kommen und gehen, wie er will?«
»Hat Brack Euch das erzählt?«, fragte Lasar und beantwortete seine Frage auch diesmal gleich selbst, indem er heftig den Kopf schüttelte. »Innerhalb der Stadtmauern vielleicht, wenn man nicht gerade …«
»… aussieht wie ich«, führte Pia den Satz zu Ende, als Lasar nicht weitersprach, sondern nur die Unterlippe zwischen die Zähne zog und plötzlich sehr verlegen aussah. Er nickte. Pia spürte genau, dass er es eigentlich nicht bei diesem Nicken belassen wollte und da noch mehr war – sehr viel mehr –, aber sie spürte ebenso deutlich, dass er nicht antworten würde, wenn sie eine entsprechende Frage stellte. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie den armen Jungen quälte, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, sagte sie. »Woher kommen die Lebensmittel für all diese Leute hier? Um Ackerbau zu betreiben, ist es wahrscheinlich viel zu kalt.«
»Es gibt ein paar Höfe im Süden«, bestätigte Lasar. »Aber Ihr habt recht, Erhabene.«
»Du«, verbesserte ihn Pia.
»Du hast recht, Erhabene«, sagte Lasar gehorsam. »Die Sommer sind kurz hier, und die Ernten würden nicht ausreichen, um uns alle satt zu machen.«
»Wovon lebt ihr dann?«
»Wir treiben Handel«, erklärte Lasar unüberhörbar stolz. »WeißWalds Handwerker und Waffenschmiede sind berühmt für die Qualität ihrer Ware. Und unsere Soldaten sorgen überall im Land für Ruhe und Ordnung. Die anderen Städte und Dörfer zahlen dafür Tribut.«
Ja, das passt, dachte Pia. Ganz genauso hatte sie Istvan eingeschätzt.
»Dann ist die Stadtwache nicht nur eine Garde, die hier in WeißWald für Ordnung sorgt?«
»Wir haben eine Armee«, bestätigte Lasar. »Sie ist nicht groß, aber ihre Schlagkraft ist gefürchtet. Selbst die Orks aus dem Süden ergreifen die Flucht, wenn Istvans Truppen auftauchen.«
Pia starrte ihn an. »Orks?«, wiederholte sie.
»Orks«, bestätigte der Junge ernst. »Aber macht Euch keine Sorgen. Sie wagen sich nicht einmal in die Nähe der Stadt. Das letzte Mal, dass sie in diesem Teil des Landes gesehen wurden, muss über hundert Jahre her sein.«
»Orks?«, murmelte Pia noch einmal. Dann lächelte sie nervös. »Na ja, warum auch nicht?« Immerhin hatte sie eine leibhaftige Wahrsagerin gesehen, einen Elfenkrieger und menschenfressende Bäume … o ja, und den Pegasus nicht zu vergessen. Warum also nicht auch ein paar Orks ?
Was immer das sein mochte.
Lasar wirkte nun vollends verstört, und Pia war ganz sicher nicht die Einzige, die ein deutliches Gefühl von Erleichterung verspürte, als sie um die nächste Abzweigung bogen und der Weiße Eber vor ihnen lag. Sie würde sich noch mal mit Lasar unterhalten müssen, über eine Menge Dinge und sehr ausführlich … aber nicht jetzt, sondern später; vielleicht wenn er aufgehört hatte, vor Ehrfurcht innerlich zur Salzsäule zu erstarren, sobald sie auch nur in seiner Nähe war. Bei der Ehrfurcht, die er ihr gegenüber empfand, dachte Pia, lag die Betonung wohl ganz eindeutig auf der zweiten Hälfte des Wortes … Aber was erwartete sie? Spätestens seit ihrem Gespräch mit Valoren war ihr klar geworden, dass sie für manche hier nicht einfach nur ein Unikum war, sondern fast so etwas wie eine Göttin. Und Lasar gehörte ganz eindeutig zu diesen manchen.
Ohne das fast.
Die beiden wachhabenden Soldaten vor dem Weißen Eber reagierten ganz genau so, wie sie es erwartet hatte: beide fuhren so heftig zusammen, als hätten sie einen elektrischen Schlag bekommen. Der Größere ließ vor Schreck beinahe seinen Speer fallen, und der andere starrte sie aus hervorquellenden Augen an, als hätte er ein Gespenst erblickt. Pia machte extra einen Umweg, um so nahe wie möglich an ihnen vorbeizugehen, und zauberte das verschmitzteste Lächeln auf ihr Gesicht, das sie zustande brachte.
»Keine Angst, Jungs«, sagte sie augenzwinkernd. »Ich verrate eurem Boss nicht, dass ich euch ausgetrickst habe.« Und schon gar nicht, wie.
Obwohl das nun wirklich kein Kunststück gewesen war.
»Das war jetzt … vielleicht nicht besonders klug, Er… Gaylen«, sagte Lasar – vorsichtshalber allerdings erst, nachdem sie wieder außer Hörweite der Männer waren.
»Warum?«, erkundigte sich
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