Elfenblut
du niemandem verrätst, was du gerade gehört hast?«, fragte sie.
»Selbstverständlich, Erhabene. Ich würde nie etwas tun, was Euch schaden könnte.«
Nein, natürlich nicht , dachte Pia. Lasar war in dieser ganzen Stadt vermutlich der Letzte, der ihr schaden würde.
Und wahrscheinlich der einzige wirkliche Freund, den sie hatte. »Wenn wir schon einmal hier draußen sind und uns die Zehen abfrieren, dann könntest du mir auch ein bisschen was von der Stadt zeigen, oder?«, schlug sie vor. Sogar ihr selbst kam ihr Lächeln eher gezwungen vor, und Lasar wirkte nur noch verwirrter. »Die … Stadt zeigen?«
»Wir sind hier fremd«, erinnerte Pia. »Bis auf den Weißen Eber und den Marktplatz kennen wir eigentlich nichts.«
»Sehr viel mehr gibt es auch nicht zu …«, begann Lasar, druckste einen Moment herum und sah für einen zweiten einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihr an. »Istvan will nicht, dass Ihr das Haus verlasst«, sagte er schließlich.
»Ja, und was Istvan und die Stadtwache sagen, daran muss man sich ja schließlich halten, nicht wahr?«, sagte Pia spöttisch.
Irgendwie gelang es Lasar, noch einen weiteren Augenblick völlig verwirrt auszusehen – doch dann konnte auch er ein dünnes Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Was genau wollt Ihr sehen, Erhabene?«
»Alles?«, schlug Pia vor.
Für alles reichte es natürlich nicht, aber nachdem er seine Überraschung endlich überwunden und eingesehen hatte, dass sie es durchaus ernst meinte, gab er sich redliche Mühe, ihrem Wunsch zu entsprechen und eine improvisierte Sightseeingtour auf die Beine zu stellen. Gute zwei Stunden lang führte er sie kreuz und quer durch die verwinkelten Gassen WeißWalds, um ihr alles von Wichtigkeit zu zeigen: das Rathaus, die Straße der Händler, die Kaserne der Stadtwache und das Gefängnis, das kleine (und besonders übel riechende) Viertel, in dem sich die winzigen Werkstätten und Geschäfte der unterschiedlichsten Handwerker aneinanderdrängten, zwei oder drei der gut zwei Dutzend Tempel und Kirchen, in denen die Einwohner WeißWalds ebenso vielen unterschiedlichen Religionen huldigten, den winzigen Viehmarkt, jetzt verwaist, und hundert andere Dinge, von denen er annahm, dass sie sie interessierten. Pia schwirrte bald der Kopf von dem Gehörten, und sie hatte die Hälfte von dem, was er ihr zeigte, schon wieder vergessen, noch bevor sie sich auf den Rückweg machten. Es interessierte sie auch nicht wirklich.
Immerhin gewann sie einen allgemeinen Eindruck der Stadt, der sich mit ihren Erwartungen deckte und gleichzeitig doch vollkommen anders war. WeißWald war genau das, als was sie es auf den ersten Blick eingeschätzt hatte: eine mittelalterliche Stadt, die noch ungefähr eine Million Jahre von der Entdeckung der Dampfmaschine entfernt war, schmutzig, klein und finster und übel riechend. Der hervorstechende Charakterzug der Menschen hier schien Misstrauen zu sein; zumindest wenn sie die Blicke richtig deutete, mit denen sie unentwegt beäugt wurde. Und zugleich kam ihr alles hier mit jedem Moment bekannter vor, wie ein Ort, an dem sie zwar noch nie zuvor gewesen war, von dem sie aber schon so oft und so viel gehört hatte, dass es praktisch keinen Unterschied mehr machte.
Und vor allem fiel ihr eines auf: So klein und rückständig WeißWald sein mochte, war die Stadt doch vollkommen autark. Wenn auch zum Teil auf einem geradezu erschreckend primitiven Niveau, gab es hier doch alles, was die Bewohner der Stadt brauchten. Alles, vielleicht bis auf …
»Wovon lebt ihr?«, fragte sie. Sie befanden sich bereits auf dem Rückweg. Wenn sie ihrem Orientierungsinn noch vertrauen konnte, dann musste der Weiße Eber nach der nächsten oder übernächsten Abzweigung vor ihnen auftauchen, zusammen mit zwei vermutlich höchst verdutzt dreinblickenden Wachen. »Ich meine: Treibt ihr Landwirtschaft? Gibt es Bauernhöfe und Felder außerhalb der Stadtmauern?«
Lasar sah nachdenklich zu ihr hoch, mit einem Ausdruck, der ihr viel zu ernst für einen Jungen seines Alters schien. »Ihr wollt herausfinden, ob es außerhalb der Stadtmauern einen Ort gibt, an dem Ihr Euch verstecken könnt«, sagte er, schüttelte praktisch sofort den Kopf und schaltete seinen Gesichtsausdruck von unangemessen erwachsen auf noch unangemessener besorgt. »WeißWald ist die einzige Stadt im Umkreis vieler Tagesmärsche. Es gibt ein paar Gasthäuser, aber die werden von der Garde kontrolliert. Ihr würdet nicht weit kommen, wenn Ihr zu
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