Elfenblut
konnte.
»Was haben sie dir angetan, mein Freund?«, murmelte Pia.
Der Hengst schnaubte, wie um ihre Frage zu beantworten, und nun war er es, der seinen Kopf gegen ihre Hand stieß, als wolle er sie aufmuntern statt umgekehrt. Seine Haut fühlte sich rau und irgendwie ein bisschen fiebrig an, auch wenn Pia nicht einmal wusste, was bei einem Pferd die normale Temperatur war.
Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an das schwache Licht, sodass sie nun erkennen konnte, in welch erbärmlichem Zustand sich der Hengst befand. Er musste einmal ein wirklich prachtvolles Tier gewesen sein, riesig – nicht nur für die Verhältnisse dieser Welt, sondern selbst für Pia – und muskulös; ein Tier, das so aussah, als wäre das Wort Stolz eigens erfunden worden, um es zu beschreiben.
Jetzt bot es einen Anblick des Jammers. Es war so schrecklich abgemagert, dass man nicht nur seine Rippen unter der Haut sehen konnte, sondern es nahezu unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohte. Sein Fell war stumpf, begann überall auszufallen und war mit zahlreichen entzündeten Wunden übersät – und noch sehr viel mehr schlecht verheilten Narben. Der Besitzer dieses schrecklichen Etablissements hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihm die riesigen künstlichen Flügel abzunehmen, die den Hengst mit ihrem Gewicht zusätzlich zu Boden zu reißen versuchten.
»Was für ein Ungeheuer …?«, murmelte Pia, trat mit einem raschen Schritt an die Seite des Hengstes und streckte die Hand aus, um nach dem Tragegestell zu suchen, an dem die Flügelattrappen befestigt waren. Doch sie führte auch diese Bewegung nicht zu Ende.
Da war kein Tragegestell.
Die Flügel waren echt.
Pia stand eine geschlagene Minute einfach nur da und starrte die gewaltigen Flügel an, die jetzt traurig, möglicherweise sogar gebrochen zu Boden hingen, ausgebreitet aber eine Spannweite von mindestens sechs oder sieben Metern haben und einen geradezu fantastischen Anblick bieten mussten.
Flügel.
Echte Flügel.
Vor ihr stand ein leibhaftiger Pegasus!
»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte sie schließlich. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd und belegt. Hätte sie in diesem Moment einen Spiegel gehabt, dann hätte sie wahrscheinlich in ein Gesicht geblickt, das ebenso bleich wie das Fell des fahlen Hengstes gewesen wäre.
Das Tier schnaubte, und Pia riss sich mit einiger Mühe vom Anblick der unmöglichen Flügel los und streckte nun doch die Hand aus, um sein edles Gesicht zu berühren, nicht in der Art, mit der man ein Tier gestreichelt hätte, sondern in einer durch und durch freundschaftlichen Geste.
Der Hengst schnaubte erneut. Seine Ohren bewegten sich aufmerksam, und wieder begegnete sie dem Blick seiner großen, so beunruhigend wissenden Augen. Aber diesmal verstand sie den Schmerz besser, den sie darin las. Es waren nicht nur die Schläge und der Hunger, die er erdulden musste. Viel schlimmer war das Gefangensein. Sie stand einem Geschöpf gegenüber, das für die Freiheit geschaffen war, für die unendlichen Weiten der Steppe und die noch viel unendlicheren Weiten des Himmels.
Kalte Wut ergriff Pia. Mit einer raschen Bewegung ließ sie sich in die Hocke sinken und versuchte das Seil aufzuknoten, mit dem die Vorderläufe des Hengstes zusammengebunden waren, als hinter ihr eine scharfe Stimme fragte: »Was bei Kronn tust du da?«
Pia drehte sich in der Hocke herum und fand ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem einer selbst für hiesige Verhältnisse kleinen (und außergewöhnlich hässlichen) Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sie so wütend anfunkelte, dass sie vermutlich erschrocken zurückgeprallt wäre, wäre sie in diesem Moment nicht selbst noch viel wütender gewesen.
»Wir haben noch geschlossen, und außerhalb der Öffnungszeiten hat hier drinnen niemand etwas zu …«
»Ist das dein Pferd?«, unterbrach Pia sie kühl.
Die grauhaarige Frau stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. »Ich wüsste nicht, was dich das …«
»Ich habe dich gefragt, ob das dein Tier ist«, fiel ihr Pia erneut ins Wort; nicht einmal wirklich lauter, aber hörbar schärfer. Die Grauhaarige sog zwar hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, aber irgendetwas an Pias verändertem Ton musste sie wohl gewarnt haben, denn sie antwortete nicht sofort, und als sie es nach ein paar Sekunden schließlich doch tat, fehlte ihren Worten gerade jene winzige Spur von Sicherheit, die sie wirklich überzeugend
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