Elfenblut
und erlebte eine weitere Überraschung.
Doch sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie angenehm war.
Die Nacht war ebenso dunkel wie der Tag hell, an dem sie das erste Mal hier gewesen war, und trotzdem konnte sie das gemeißelte Steingesicht des tausend Jahre alten Hochkönigs genauso deutlich erkennen. So unheimlich und Licht verzehrend, wie der schwarze Stein im hellen Sonnenlicht ausgesehen hatte, schien er jetzt das blasse Sternenlicht zu reflektieren, mehr noch: Es schien fast, als leuchte der schwarze Basalt wie unter einem geheimnisvollen inneren Feuer. Die steinernen Pupillen starrten so mitleidlos und kalt wie seit einem Millennium auf sie herab, und Pia fiel abermals und noch sehr viel deutlicher die Ähnlichkeit mit ihrem geheimnisvollen Retter auf. Vielleicht war es nicht genau dasselbe Gesicht. Ganz bestimmt war es nicht genau dasselbe Gesicht, aber die Ähnlichkeit war dennoch frappierend. Wenn dieses Relief nicht den Mann zeigte, der sie zweimal vor Hernandez gerettet hatte, dann seinen Vater, Bruder oder einen anderen sehr nahen Verwandten.
Pia schüttelte diesen ebenso unsinnigen wie im Moment ganz und gar nicht hilfreichen Gedanken ab, riss ihren Blick mit großer Anstrengung von den gemeißelten Elfenaugen los und konzentrierte sich stattdessen auf das Tor. Das praktisch nicht vorhandene Licht, das sie bisher so zuverlässig beschützt hatte, erwies sich nun als Nachteil. Das gewaltige Tor war wenig mehr als eine Wand aus ineinanderfließenden Schatten. Der seltsame Leuchteffekt beschränkte sich leider nur auf das gemeißelte Gesicht des Hochkönigs, und das riesige Schloss war praktisch unsichtbar. Doch auch wenn es das nicht gewesen wäre, was hätte es ihr genutzt? Sie hatte keinen Schlüssel. Niemand hatte einen Schlüssel. Den hatte jemand vor gut tausend Jahren verbummelt.
Pia gestattete sich nicht, in Mutlosigkeit zu verfallen, sondern trat einen weiteren Schritt zurück und ließ ihren Blick an der nahtlosen Wand hinaufwandern. Das nächste Fenster befand sich in mindestens sechs oder sieben Metern Höhe, vollkommen unerreichbar, und war eigentlich kein Fenster, sondern eine bessere Schießscharte, durch die sie vermutlich nicht einmal hindurchgepasst hätte.
»Ich würde passen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Pia fuhr wie elektrisiert zusammen und herum und griff gleichzeitig unter dem Umhang nach ihrer Waffe.
Nicht einmal fünf Schritte hinter ihr war eine Gestalt aufgetaucht, schwarz wie ein Scherenschnitt in der Nacht und so lautlos wie ein Geist. Selbst jetzt, wo sie wusste, dass er da war, fiel es ihr schwer, ihn wirklich mit Blicken zu fixieren.
»Lasar?«
Der Schatten bewegte sich und wurde raschelnd von einem Umriss zu einem Körper mit Tiefe und Substanz, jedoch noch immer ohne Gesicht. Aber sie kannte die Stimme. »Lasar?«, fragte sie noch einmal. »Was tust du denn hier?«
»Es tut mir leid, Erha… «, er verbesserte sich hastig, »Gay… Pia. Ich wollte Euch nicht nachspionieren, aber …«
»Warum tust du es dann?«, fragte Pia. Wie um alles in der Welt kam er hierher? Und wieso hatte sie ihn nicht bemerkt?
»Es tut mir leid«, sagte Lasar noch einmal. »Ich wollte das nicht. Aber Brack …«
»… hat darauf bestanden, ich verstehe.« Pia war nicht ganz sicher, ob sie Lasar glauben sollte.
»Es tut mir leid«, stammelte Lasar zum dritten Mal.
»Ja, das glaube ich dir«, seufzte Pia. Das war sogar ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht zu sagen vermochte, was Lasar so unendlich leidtat. Dass er ihr nachgeschlichen war oder dass sie ihn gesehen hatte. »Und wie lange verfolgt du uns schon?«
Lasar schwieg, aber das war Antwort genug.
»Ich passe da oben durch«, sagte er. Pia reagierte nur mit einem verständnislosen Blick, und der Junge deutete mit beiden Armen an der Wand hinauf. »Das Fenster. Ich glaube, ich passe durch.« Er lächelte ebenso unecht wie verlegen. »Ich … habe Euren Blick bemerkt. Ihr wollt dort hinein, nicht wahr? Ich könnte durch das Fenster klettern und versuchen, die Tür von innen zu öffnen.«
»Und du hast unter deinem Mantel auch ein Paar Fledermausflügel versteckt, mit denen du dort hinauffliegen kannst, nehme ich an.«
»Ich kann nach oben klettern«, behauptete Lasar.
An einer Wand, die so glatt war wie ein Spiegel?
»Ich kann das«, versicherte Lasar, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ich bin ein guter Kletterer.«
Pia sagte gar nichts mehr. Sie trat nur einen halben Schritt zur Seite und machte eine
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