Elfenblut
die Worte zu verstehen, doch gerade als das lautlose Wispern tatsächlich einen Sinn ergeben wollte, fragte Lasar – beunruhigt und deutlich näher: »Was ist los mit Euch, Erhabene?«
»Nichts«, murmelte Pia. Rasch schob sie das Schwert unter ihren Mantel, drehte sich zu ihm herum und brachte sogar irgendwie das Kunststücke fertig, halbwegs überzeugend zu lächeln. »Wie gesagt: Ich habe nur etwas verloren. Gehen wir?«
XXII
W ie jedes Mal, wenn sie auf die Straße hinaustrat, musste sie gegen die Überzeugung ankämpfen, dass es schon wieder kälter geworden war. Brack und alle anderen, mit denen sie sprach, behaupteten hartnäckig, es wäre Sommer, und Pia blieb allmählich nichts anderes mehr übrig, als sich einzugestehen, dass das vermutlich der Wahrheit entsprach. Vermutlich fielen die Temperaturen im Winter noch ein gutes Stück unter den absoluten Nullpunkt. Aber wie es aussah, dachte sie betrübt, standen ihre Chancen gar nicht schlecht, das selbst herauszufinden. Sie waren jetzt seit gut zwei Wochen in dieser sonderbaren Stadt mit dem noch sonderbareren Namen, und der Turm des Hochkönigs war ihre letzte Hoffnung gewesen, doch noch einen Weg zurück nach Hause zu finden. Vielleicht stellte dieser unheimliche Turm irgendeinen Weg dar, wieder in die Welt zurückzukehren, in die sie gehörte, aber wenn, dann war ihr dieser Weg zumindest im Augenblick verwehrt. Wäre Lasar nicht im richtigen Moment aufgetaucht, dann hätte Eirann sie vielleicht berührt, und dann …
Wäre gar nichts passiert , rief sie sich in Gedanken zur Ordnung. Weil es keinen Eirann gegeben hat . Er war eine Erinnerung, nichts als eine Legende. Es gab ihn nicht. So wenig, wie es Gespenster gab.
Die Straße war menschenleer und dunkel. In keinem einzigen Haus brannte Licht, und es war so still, als wäre die Stadt im gleichen Moment ausgestorben, in dem das letzte Sonnenlicht hinter dem Horizont verschwunden war. Trotzdem blieb Lasar plötzlich stehen und hob warnend die Hand. Seine Haltung drückte Anspannung aus. Das hatte sie die ganze Zeit über getan, nicht erst seit, sondern schon bevor sie den Turm verlassen hatten, aber jetzt gesellte sich noch etwas anderes hinzu. Angst?
»Was hast du?«, fragte Pia, doch Lasar machte nur eine neuerliche und jetzt eindeutig erschrockene Geste, zu schweigen, und zog sie dann mit einer plötzlichen Bewegung in den Schatten eines überhängenden Türsturzes. Erst dann hörte Pia das Geräusch schwerer, langsamer Schritte, die näher kamen.
Es war eine Patrouille der Stadtwache, die üblichen zwei Mann in schwerem Mantel, Harnisch und Schild, die am anderen Ende der Straße erschienen und nicht besonders schnell, dafür zielsicher auf sie zukamen. Der Junge fuhr erschrocken zusammen und sah sich hektisch nach rechts und links um, und Pia konnte seine Gedanken in diesem Moment mehr als deutlich hören. Er suchte verzweifelt nach einem Versteck oder einem Fluchtweg. Als er loslaufen wollte, legte ihm Pia die Hände auf die Schultern.
»Rühr dich nicht«, zischte sie. »Und keinen Laut!«
Lasar war wahrscheinlich viel zu schockiert, um auch nur Luft zu holen, und als er seinen ersten Schrecken überwunden hatte, war es zu spät, um noch irgendetwas zu tun. Vorhin wäre er vermutlich nicht unentdeckt geblieben und den Männern einfach davongelaufen, doch nun war das unmöglich. Er stand einfach wie erstarrt da und Pia griff nach den Schatten und verwob sie zu einem schützenden Mantel, der sie vollkommen unsichtbar machte. Die beiden Wachsoldaten gingen weniger als eine Armlänge entfernt an ihnen vorbei, ohne sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Nach einigen weiteren Sekunden bogen sie in eine Seitenstraße ab, und erst in diesem Moment wagte es Lasar tatsächlich, wieder zu atmen.
»Bei Kronn!«, keuchte er. »Wie … wie habt Ihr das gemacht?«
»Du«, antwortete Pia. »Und was?«
»Ihr habt sie verzaubert, damit sie uns nicht sehen!« Der Junge starrte sie aus großen Augen an.
»Wenn ich Zauberkräfte hätte, wäre ich dann noch hier?«
»Aber wie habt Ihr das gemacht?«, beharrte Lasar, als hätte er ihre Worte gar nicht gehört.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Pia. »Doch es hat bestimmt nichts mit Zauberei zu tun. Ich konnte das schon immer.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, kam dieser aber näher, als ihr selbst bis zu dem Zeitpunkt klar gewesen war. Pia war schon als Kind unschlagbar darin gewesen, sich zu verstecken, und an dieser Tatsache hatte sich nichts
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