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Elfenblut

Elfenblut

Titel: Elfenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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abzutun, wie er war. Es gelang ihr nicht. Das Relief machte ihr Angst, mehr Angst als irgendetwas zuvor.
    Mit einer Kraftanstrengung, die ihre Möglichkeiten fast überstieg, zwang sie ihre Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück und sich selbst, das Bild mit anderen Augen zu betrachten. Es zeigte eine junge Frau, die tatsächlich sie sein konnte, genauso gut aber auch eine beliebige andere Frau: schlank und hochgewachsen, mit für die Menschen hier völlig untypischem langem Haar, das bis weit über ihren Rücken fiel. Ihr Gesicht war so stilisiert, dass es buchstäblich jede sein konnte.
    Pia, die wiedergeborene Elfenprinzessin Gaylen … lächerlich!
    Aber warum machte ihr das Bild dann solche Angst?
    Weil du eine hysterische blöde Ziege bist, antwortete sie sich selbst. Das Waisenkind aus den Favelas, das sich als die seit tausend Jahren verschollene Elfenprinzessin entpuppte? Ja, das klang logisch.
    Das Schleifen, das sie schon einmal gehört hatte, wiederholte sich jetzt, und ein Hauch völlig anderer, körperloser Kälte streifte ihre Seele. Pia fuhr blitzartig auf dem Absatz herum –
    und erstarrte mitten in der Bewegung.
    Sie war nicht mehr allein. Mehrere gespenstisch bleiche Gestalten hatten den Thronsaal betreten, allesamt hochgewachsen – sehr viel größer als sie – und in lange schwarze Mäntel gekleidet, unter denen silberne Rüstungen und lange Schwerter blitzten. Sie trugen spitze, ebenfalls silberne Helme auf den Köpfen und hatten schmale, edel geschnittene Gesichter.
    Und außerdem waren sie durchsichtig.
    Es waren Gespenster.
    Pia schloss die Augen, zählte in Gedanken ganz langsam bis zehn und sah wieder hin. Nichts hatte sich verändert. Die Gespenster waren immer noch da, und es waren sogar mehr geworden. Jetzt waren es mindestens ein Dutzend Gestalten, die den ehemaligen Thronsaal bevölkerten, flackernde Schemen, durch die das Licht drang, die manchmal da zu sein schienen, manchmal nicht und manchmal irgendetwas dazwischen. Es wurden immer mehr, zwei Dutzend, dann drei, vier … bis der Thronsaal vor lautlosen Schemen überzuquellen schien. Sie bewegten sich durcheinander, standen zu zweit oder in Gruppen da, redeten und stritten, aber Pia hörte nicht den mindesten Laut, als betrachte sie einen uralten Film ohne Ton. Alles vollzog sich in gespenstischer Lautlosigkeit, doch sie spürte, dass sie Zeugin von etwas sehr Wichtigem wurde. Etwas geschah hier (oder war geschehen?), das von großer Bedeutung war.
    »Wer … seid ihr?«, murmelte sie stockend. »Was wollt ihr?«
    Sie hatte die Worte fast ohne ihr Zutun gesprochen, und das Allerletzte, womit sie gerechnet hätte, wäre eine Reaktion der Gespenster gewesen.
    Aber sie erfolgte.
    Ihre lautlosen Gespräche verstummten. Die flackernden Gestalten erstarrten mitten in der Bewegung, und für die Dauer eines einzelnen, unendlichen Herzschlages schien selbst die Zeit innezuhalten.
    Was bestimmt nur Zufall war. Ganz gewiss. Es konnte gar nichts anderes sein.
    Und vielleicht war es das ja, denn schon im nächsten Moment wandten sich die Gespenster wieder dem zu, was auch immer sie gerade getan hatten, und Pia blieb einerseits Zeit, erleichtert aufzuatmen, und andererseits, sich selbst in Gedanken mit ein paar wenig schmeichelhaften Bezeichnungen zu belegen, was ihren Mut und ihre Leichtgläubigkeit anging, bevor sie einen neuerlichen, noch viel kälteren Hauch spürte, der ihre Seele zu Eis erstarren ließ, und dann den Blick unsichtbarer Augen zwischen den Schulterblättern. Sie presste die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel knackten, als sie sich langsam herumdrehte, und sah sich nach irgendetwas um, das sich als Waffe gebrauchen ließ.
    Aber ein Gespenst anzugreifen, wäre wohl auch ziemlich sinnlos gewesen.
    Selbst wenn dieses Gespenst nur wenige Schritte hinter ihr auf dem Thron saß und sie anstarrte. Und diesmal war sie ganz sicher, dass es kein Zufall war.
    Es war Eirann, der Hochkönig der Dunkelelfen. Sie hätte ihn auch dann erkannt, wenn sie sein Gesicht nicht über dem Tor draußen gesehen hätte. Es war das Gesicht des Fremden, der sie zweimal gerettet hatte, und zugleich auch wieder nicht, denn dieses Antlitz war älter, unendlich viel erfahrener und härter. Sie konnte nicht sagen, ob der Ausdruck in seinen Augen bloße Härte oder schon Gnadenlosigkeit war. Wahrscheinlich waren diese Unterschiede ohnehin verschwommen im Laufe der Äonen, die diese Augen erblickt haben mussten.
    Obwohl er saß, konnte sie

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