Elfenblut
beinahe unnatürlich vor. Nichts rührte sich. Selbst der Wind schien für einen Moment verstummt zu sein, und obwohl sie die schmale und unbeleuchtete Gasse selbst ausgesucht hatte, erschien ihr die Dunkelheit zu total, die Schwärze zu intensiv, und sie konnte nicht sagen, ob sie diese Finsternis als Schutz empfand oder etwas Feindseliges.
Sie schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, über ihre eigene Dummheit zu lachen. Hier war alles ganz genau so, wie es sein sollte: Die Häuser standen leer, einige schon vor Jahren von ihren Besitzern verlassen oder von Schlägertrupps der Stadtverwaltung geräumt, damit die Bagger und Planierraupen leichtes Spiel hatten, wenn sie demnächst anrückten. Sie spürte trotzdem, dass sie beobachtet wurden, aber zumindest das beunruhigte sie in diesem Augenblick am wenigsten. In den Favelas war man nie allein, auch wenn es manchmal den Anschein hatte. Sie war mit diesem Gefühl aufgewachsen und hätte es eher als störend empfunden, wäre es nicht da gewesen.
Und trotzdem blieb ein Unbehagen, das nichts mit dem Wissen zu tun hatte, aufmerksam beobachtet zu werden, und nichts mit der Lebensgefahr, in der sie nach wie vor schwebten. Etwas stimmte nicht; nicht mit der Welt oder ihrer Art, sie zu sehen.
Sie liefen noch ein kleines Stück, bis sie in einer schmalen, nach Unrat und Abfall riechenden Gasse anhielten, um Atem zu schöpfen und sich zu orientieren. Die Straße war von hier aus lediglich als heller Fleck am Ende eines Tunnels aus rauchiger Schwärze zu erkennen. Nur in einem einzigen Gebäude brannte Licht; der flackernde Schein einer Kerze, die bloß darauf wartete, umzufallen und das ganze Viertel in Brand zu setzen, und es war noch immer beinahe unwirklich still.
Und alles hier war … falsch . Sie gehörte nicht hierher.
»Das hätte dir auch früher einfallen können«, sagte Jesus säuerlich.
Pia starrte ihn eine geschlagene Sekunde lang verständnislos an, dann noch eine und schließlich eine dritte, bevor ihr klar wurde, dass sie die letzten Worte laut ausgesprochen hatte. »Wie?«, murmelte sie.
»Wir hätten gar nicht herkommen sollen, da hast du völlig recht.« Jesus atmete fast so schwer wie sie, und obwohl Pia ihn in der Dunkelheit nicht deutlicher denn als schwarzen Schatten erkennen konnte, spürte sie doch, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Vielleicht hatte er sich beim Sturz in die Baugrube verletzt. »Das Schwein hat das die ganze Zeit über geplant. Hat uns sauber in die Falle gelockt.«
Er stellte die Tasche ab, fuhr sich mit dem Jackenärmel durchs Gesicht und spuckte ein paarmal aus. Das gehörte nicht zu seinen schlechten Angewohnheiten, für Pia ein weiteres Indiz, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dann ließ er sich in die Hocke sinken, griff in den Beutel und nahm eines der würfelförmigen Päckchen heraus. Pia konnte bei dem schwachen Licht nicht erkennen, worum es sich handelte, vermutete aber, dass es ein Geldbündel war, und Jesus’ nächste Worte bestätigten das.
»Und das soll eine Million sein?«, fragte er zweifelnd.
»Eine viertel«, antwortete Pia. Ihr Blick tastete durch die Dunkelheit, versuchte Dinge in den Schatten zu erkennen, die vielleicht nicht da waren, vielleicht aber doch, und nur etwas anderes bedeuteten, und statt sich zu beruhigen, wurde ihr Herzschlag immer schneller und hektischer. Sie mussten weg. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht richtig. Etwas kam. »Es sind vier Päckchen.«
»Sieht trotzdem wenig aus.« Jesus ließ den Würfel wieder in den Beutel fallen und richtete sich mit einem ganz und gar untypischen Ächzen auf. »Kein Wunder, dass sie so scharf drauf waren.«
»Warum hast du das getan?«, fragte Pia mit einer Kopfbewegung auf den Beutel. »Sie hätten dich umbringen können.«
Jesus lachte hart. »Stell dir vor, das haben sie sowieso versucht.« Er versetzte dem Beutel einen Tritt. »Ohne das da sind wir erledigt. Wir müssen raus aus der Stadt. Am besten noch heute Nacht.«
»Und wohin?« Pia erwartete keine Antwort auf diese Frage. Alles hatte sich geändert, buchstäblich von einem Atemzug auf den anderen. Falls Hernandez noch lebte (und irgendetwas sagte ihr, dass er es tat und dass er sehr, sehr wütend war), dann waren er und seine Männer vermutlich jetzt schon hinter ihnen her. Sie konnten weder nach Hause noch zu einem ihrer Freunde. Die Favelas mochten ein Dschungel aus Holz und Stein und Wellblech und Menschen sein, in dem es Millionen Verstecke gab, aber es war nicht
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