Elfenblut
nur ihr, sondern auch Hernandez’ Dschungel, in dem er sich mindestens genauso gut auskannte wie sie. Nicht einmal das Geld in Jesus’ Tasche würde ihnen helfen. Ganz im Gegenteil. Wenn sich erst einmal herumsprach, dass sie es hatten, konnte es gut zu ihrem schlimmsten Feind werden.
Pia schüttelte den Gedanken ab und zwang sich mit einer bewussten Anstrengung in die Wirklichkeit zurück. Sie lauschte. Die unheimliche Stille war noch immer da, wie etwas … Fassbares, das nicht nur aus der Abwesenheit sämtlicher anderer Geräusche bestand, sondern auf eine vollkommen bizarre Art Substanz zu gewinnen begann, aber darunter hörte sie jetzt auch andere Laute. Aus der Cantina (offensichtlich hatten sie sich nicht annähernd so weit davon entfernt, wie sie es gehofft hatte) drangen jetzt wieder Musikfetzen auf die Straße, aufgeregte Stimmen, und dann drehte der Wind für einen Augenblick und trug Verkehrslärm heran, aber auch andere Stimmen, hektisch, zornig. Vielleicht Schritte, die näher kamen. Und wenn nicht jetzt, dann bald.
Sie fasste einen Entschluss. »Okay«, sagte sie. »Wir gehen zu Esteban.«
Jesus wollte protestieren, doch Pia schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab, deutete auf den Beutel und fuhr gleichzeitig mit leicht erhobener Stimme fort: »Nur für einen Moment. Wir brauchen saubere Kleider und wir müssen den Mist hier loswerden. Danach verschwinden wir.«
Jesus wirkte nicht begeistert, schulterte jedoch gehorsam den Beutel, und sie setzten ihren Weg fort. Niemand verfolgte sie, zumindest auf dem ersten Stück, aber ihr Vorwärtskommen gestaltete sich trotzdem schwieriger, als Pia befürchtet hatte. Dass sie hier zu Hause waren, bedeutete nicht, dass jedermann ihr Feind gewesen wäre; aber auch längst nicht jedermann ihr Freund. Für die meisten waren sie einfach nur Fremde, auch wenn sie sich mit der gelassenen Selbstverständlichkeit von Menschen bewegten, die in dieser Umgebung aufgewachsen waren und sie nicht zu fürchten hatten. Dennoch fielen sie auf, und das war es, was sie im Moment am allerwenigsten gebrauchen konnten.
Jesus blieb plötzlich stehen, und Pia konnte spüren, wie er sich anspannte. Erschrocken sah sie sich um, gewahrte nichts als Schatten und lautlos huschende Bewegung, die nur in ihrer Fantasie existierte, und spürte ein Frösteln, das sie zunächst für nichts anderes als Furcht hielt, bis ihr klar wurde, dass es tatsächlich kälter geworden war.
»Es ist kalt«, murmelte sie verwirrt. Und die Luft … roch nach Schnee?
Das war lächerlich. Das hier war Rio de Janeiro, nicht Aspen. Hier wurde es nie kalt, und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Schnee?
»Du bist erschöpft«, behauptete Jesus – was ihn allerdings nicht daran hinderte, selbst fröstelnd die Schultern hochzuziehen. »Und du hast Angst.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was das Wort bedeutet«, antwortete Pia lahm.
Jesus machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu antworten, sondern rückte nur die Tasche auf seiner Schulter zurecht, um ein neuerliches und noch heftigeres Frösteln zu kaschieren, und sah sich noch einmal aufmerksamer um. Pia blickte fragend, aber Jesus sagte jetzt gar nichts mehr, sondern machte nur eine auffordernde Kopfbewegung und ging weiter; zu Pias Unbehagen nicht in Richtung der flackernden Lichter, sondern tiefer in die Dunkelheit hinein. Die Straßen, durch die sie sich nun bewegten, verdienten diesen Namen kaum noch, nicht einmal hier. Sie waren so schmal, dass Pia mit ausgestreckten Armen die Wände rechts und links hätte berühren können, und mit Abfällen und Schmutz übersät. Es roch schlecht, und die wenigen Geräusche, die noch an ihr Ohr drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Furcht irgendwie zu dämpfen. Das hier waren die wirklichen Favelas, die Elendsviertel der Elendsviertel, in denen nicht nur die Ärmsten der Armen lebten, sondern auch genau der Abschaum, von dem die Stadtverwaltung zu gerne sprach, wenn sie wieder einmal einen Vorwand brauchte, ein paar Straßenzüge abzureißen, um teuren Baugrund zu erschließen. Nicht einmal Pia hätte es gewagt, allein hierherzukommen.
Natürlich war ihr klar, warum Jesus diese Route gewählt hatte – aus dem gleichen Grund, aus dem auch sie es getan hätte, wäre sie verrückt genug gewesen. Er hoffte, dass Hernandez und seine Schläger die Sache ganz genauso sahen und es nicht wagten, ihnen auf demselben Weg zu folgen. Wahrscheinlich hatte er recht damit.
Oder auch nicht, denn nach ein paar
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